Innenpolitisch erleben wir gerade historische Wochen. Zunächst steht ja ein Thronwechsel an; das passiert im Durchschnitt nur alle paar Jahrzehnte mal. Und am Dienstagabend war auch die Sechste Staatsreform in trockenen Tüchern. Wenn die einmal umgesetzt ist, dann hat sich Belgien neu erfunden, dann liegt der politische Schwerpunkt nämlich bei den Gemeinschaften und Regionen. Nicht zu vergessen, dass das auch der Schlussstrich ist unter der wohl schwersten institutionellen Krise seit langem, die das Land im Grunde seit sechs Jahren politisch blockiert hatte. Bleibt die Frage, ob man mit institutioneller Feinmechanik beim Wähler punkten kann.
Es ist das berühmte "Problem Numero 127". Der frühere SP.A-Präsident Steve Stevaert hatte dieses Bild geprägt. "BHV, das ist auf der Prioritätenliste zugegebenermaßen auf dem 127ten Platz. Der Punkt ist: Ohne eine Lösung für Problem Nummer 127 kann man die 126 anderen auch nicht lösen".
Problem 127: Ein institutionelles Problem, wo es allein um den inneren Aufbau des Staates geht, um Strukturen statt um Menschen. Und Problem 127 stellt Politiker vor eine undankbare Aufgabe. Auf der einen Seite ist, ohne eine Lösung, das Klima dermaßen vergiftet, dass es zum Zentrum des politischen Mikrokosmos wird, und die 126 anderen Probleme tatsächlich liegenbleiben. Auf der anderen Seite ist die Lösung für das Problem so technisch, so abstrakt, so fern von den Alltagssorgen der Menschen, dass damit -wahlkampftechnisch betrachtet- eigentlich kein Blumentopf zu gewinnen ist.
Verfassungsrechtler, Insider, Politiker aus anderen Vielvölkerstaaten: sie alle können, beziehungsweise sie werden, denn auch den Vertretern der acht Parteien, die die Staatsreform ausbaldowert haben, den Hut ziehen. Die Belgier haben - mal wieder - die Quadratur des Kreises hinbekommen, die zum Teil diametral entgegengesetzten Standpunkte von Flamen, Wallonen, Brüsselern und auch Deutschsprachigen unter einen Hut gebracht. Noch zur gleichen Zeit vor zwei Jahren erschien das fast schon wie ein Ding der Unmöglichkeit.
Auf der anderen Seite ist da allerdings der Bürger, der vielleicht gerade krisenbedingt seinen Job verloren hat; und der dürfte mitunter nicht ganz so viel für die 1.100 Seiten institutioneller Hochtechnologie übrig haben, nach dem Motto: "Schön und gut, aber ich hab' keinen Job!".
Von einer Staatsreform kann man sich eben nichts kaufen; zumindest nicht hier und jetzt. Eine Staatsreform bringt keine schnellen Lösungen für die Alltagssorgen der Bürger. Eine Staatsreform wird erst später, manchmal viel später im Alltag der Menschen spürbare Veränderungen und im besten Fall auch Fortschritte bringen; das hängt aber zudem entscheidend davon ab, was die Regionen und Gemeinschaften mit ihren neuen Zuständigkeiten anstellen.
Die Gefahr ist also gegeben, dass ein absolut bemerkenswerter Erfolg, den so mancher schon als "Wunder" bezeichnet hat, am Ende unbemerkt bleibt: Man hat Wasser in Wein verwandelt, aber niemand ist da, um ihn zu trinken. Die Sechste Staatsreform, die die meisten Bürger bestimmt nicht am Einschlafen gehindert hat, ist vordergründig "Politikergedöns", sie dient im ersten Moment allein der gemeinschaftspolitischen Befriedung.
Zwar muss man nicht so naiv sein, und glauben, dass es jetzt erst einmal keine gemeinschaftspolitischen Reibereien mehr geben wird. Das gehört in Belgien dazu. Aber zwischen kleinkariertem Knatsch und einer existenziellen Krise ist immer noch ein himmelweiter Unterschied.
Durch die Sechste Staatsreform wird das Fieber nochmal auf Normalniveau gesenkt. Und das ist in Belgien eben mehr als die halbe Miete. Alles steht und fällt mit dem Gleichgewicht zwischen den Sprachgruppen. Ohne gemeinschaftspolitischen Frieden - keine Politik.
Wer, wie N-VA-Chef Bart De Wever, glaubt, dass man Zeit und Energie sparen könnte, indem man eben gleich reinen Tisch macht, der greift zu kurz. Einfache Lösungen gibt es nicht. Erst recht nicht im belgischen institutionellen Dschungel. Dass Belgien ein völkerrechtlicher Unfall ist: mag sein. Das zu ändern ist aber ungleich schwieriger, als damit zu leben. Die Kunst besteht denn auch darin, das Beste daraus zu machen.
Insofern sollte man sich eben auch nicht scheuen, die Sechste Staatsreform als das zu bezeichnen, was sie ist: historisch. "Historisch" nicht nur wegen der ganz konkreten Folgen für die Regionen und Gemeinschaften, die schon bald noch viel autonomer als bisher ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen können. "Historisch" auch für denjenigen, der an Belgien glaubt. Nicht an das Belgien von Leopold dem Ersten, nicht aus anachronistischer Fahnentreue, nicht aus einem angestaubten Patriotismus heraus, sondern weil man an das glaubt, wofür Belgien steht: das friedliche Zusammenleben verschiedener Völker unter einem gemeinsamen Dach, wo sich Flamen, Wallonen, Brüsseler und Deutschsprachige frei entfalten können, dabei aber zugleich im Rahmen einer übergeordneten Solidarität miteinander verbunden bleiben. Wo jeder seine Sprache spricht, jeder -und das ist auch gut so- jeder SEIN Leben lebt und organisiert, und doch alle zusammen ein und derselben Fußballmannschaft zujubeln, ein und dieselbe Kulturveranstaltung besuchen, ein und dieselbe Tennisspielerin anfeuern, gleich woher sie stammt.
Gutmenschengeschwafel? Pathetische Sonntagsrede? Mag sein! Aber, was wäre denn der Umkehrschluss? Ein ewig währender Kalter Krieg, eine konfrontative Haltung, Dauerpolarisierung, wie es derzeit unter anderem von der N-VA gepredigt wird. Es gibt Parteien, die leben vom Dauerkonflikt, die brauchen IHR Problem Numero 127.
Jetzt, wo die Sechste Staatsreform in trockenen Tüchern ist, die gleich eine ganze Reihe dieser Dauerkonflikte regelt, jetzt stellt sich also eine Frage: Schaffen wir uns ein neues Problem 127? Oder geben wir uns die Zeit, jetzt erst einmal die 126 anderen zu lösen? Vielleicht sollte der Wähler, vor allem in Flandern, doch mal genauer hinschauen.