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Erzbischof Andre-Joseph Léonard wurde buchstäblich geduscht. "Femen" wollte damit gegen die Haltung der Kirche zur Homosexualität protestieren. Die Aktion - müßig in ihrem Inhalt, inakzeptabel in ihrer Form - steht stellvertretend für eine inzwischen fehlgeleitete Protestkultur.
"Indignez-vous!", "Empört Euch!", hatte der inzwischen verstorbene französische Intellektuelle Stéphane Hessel in seinem Bestseller gefordert. Und irgendwie scheint er einen Nerv getroffen zu haben: Es wird sich empört, dass einem Hören und Sehen vergeht.
Das allerdings im wahrsten Sinne des Wortes - wenn man sich etwa einmal eine Protestaktion der Femen anschaut. Denn, für beide Sinne ist gesorgt: es ist ja ein Oben-Ohne-Protest, der zudem begleitet wird von einem ohrenbetäubenden Kreischen der selbsternannten Feministinnen. Etwas für die Augen und für die Ohren, wohl um die inhaltliche Leere zu übertünchen.
Inhaltlich leer, weil eben müßig: Die Kirche hat ihren Standpunkt zur Homosexualität. Der ist hinlänglich bekannt. Die Kirche ist aber nicht der Staat: Niemand ist verpflichtet, ihr beizutreten. In Belgien gibt es doch längst die Homoehe. Was also soll denn der Zinnober?
Show-Effekt
Nein, hier geht es nur um den Show-Effekt. Wie sonst könnte man erklären, dass die Femen-Aktivistinnen im Grunde genau das gemacht haben, wogegen sie doch eigentlich zu Felde ziehen wollen.
Erstens rein äußerlich: Dass der Protest barbusig erfolgt, ist kein politisches Statement - zumindest nicht in Belgien. Symbolcharakter hat das vielleicht in der Ukraine, wo die Bewegung 2008 entstanden ist. In den westlichen Gesellschaften, wo die Emanzipation der Frau vielleicht noch nicht in allen Details aber zumindest grundsätzlich längst erreicht ist - hier folgt eine Topless-Aktion viel eher einer Marketingstrategie: Sex sells, nur nackte Haut schafft es in die Medien. Im Endeffekt machen also diese angeblichen Feministinnen genau das, wogegen ihre - ihrerseits authentischen - Vorgängerinnen gekämpft haben: Sie reduzieren die Frau auf ihre körperlichen Attribute, machen sich selbst zum - allerdings kreischenden - Blumentopf.
Und auch in der Durchführung ihrer Protestaktion führen sich die Femen selbst ad absurdum. Sie fordern Respekt für Homosexuelle ein, und was machen sie zugleich? Indem sie Erzbischof Léonard mit Wasser übergießen, verletzen sie seine körperliche Integrität und verweigern dem Erzbischof damit sogar noch das absolute Mindestmaß an menschlichem Respekt. Das ist eine Form von Terrorismus, ein einseitiger Gewaltakt, der der Durchsetzung einer politischen Idee dienen soll, der damit aber im Grunde nur einer Kommunikationsstrategie folgt.
Shitstorm
Damit betten sich die Femen perfekt in den Mainstream der Protestkultur des 21sten Jahrhunderts ein. Alles ist oberflächlich: Inhaltlichen Tiefgang sucht man vergebens, in erster Linie muss es zischen und puffen. Vorbei die Zeit, wo Manifeste, ideologische Bibeln verfasst wurden, die als politischer Gegenentwurf dienen sollten. Gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen finden heute nur noch in der Breite statt, wenn sie ins Youtube-oder Twitter-Format passen. Und wenn sie dadurch letztlich zum Shitstorm taugen.
Shitstorm, die wörtliche Übersetzung erübrigt sich, das ist jene Form von kollektiver Empörung, die im Internet ihren Anfang nahm. Ein Bild, ein Satz, und die Internet-Gemeinde ist losgelassen: Es hagelt Kommentare, die Sau wird durchs Dorf getrieben. Die Empörung mag in der Sache zuweilen sogar berechtigt sein. Das Problem ist aber, dass der Shitstorm an sich zum alleinigen Vektor der politischen Diskussion zu geraten droht. Man nehme etwa die Schlagzeile "Zyprer sind wohlhabender als Deutsche": Diese fünf Wörtchen alleine reichen, um die Zyprer, und damit auch die Vettern aus Griechenland, nebenbei den Euro und selbstredend auch die EU kollektiv und mit einem Mal tausendfach im Web 2.0 an die Wand zu klatschen. Shitstorm, eben. Dass sich hinter dieser Schlagzeile eine durchaus komplexe Realität verbirgt... Wen interessiert es: eine Twitter-Mitteilung umfasst ja nur höchstens 120 Zeichen.
Der kritische, mündige Bürger: Dieses Ideal ist pervertiert. Kritisch ist inzwischen, wer möglichst kurz und knapp die Politik, die Justiz, schlicht und einfach das Establishment pauschal in die Tonne kloppt. Und immer die ewig selbe Diagnose: "Die da oben machen doch sowieso alle, was sie wollen".
Pauschalurteil ist falsch
Zugegeben: Die einstigen Eliten - Politik, Justiz, Kirche, Banken - all diese angeblichen gesellschaftlichen Fixsterne haben in den letzten Jahren in der Tat quasi alles dafür getan, auch noch den letzten Rest ihrer Glaubwürdigkeit zu verspielen. Doch ist jedes Pauschalurteil immer falsch. "Tous pourris", "allesamt korrupt". Mit sinngemäß genau dieser Parole haben die Faschisten in den 1930er Jahren die Menschen betrunken gemacht, so eingenebelt, dass am Ende sogar applaudiert wurde, als die Parlamente, jene angeblichen Quasselbuden, zugemacht wurden. Die schrecklichen Folgen sind bekannt...
Hier soll nicht mit der Moralkeule geschwungen werden. Es ist nur ein Appell für eine Protestkultur mit etwas mehr Tiefgang. Dem Staat auf die Finger zu schauen, das heißt erstmal einzusehen, dass der Staat kein abstraktes Gebilde ist, das sind wir alle! Mündig, das heißt nicht, sich über 100 iPhones in Charleroi zu ärgern. Das heißt auch mal offensiv und in aller Konsequenz die Frage nach der Finanzierbarkeit unserer Pensionen zu stellen. Und auch die vielleicht unbequemen Antworten zu akzeptieren, ohne gleich wieder das Teerfass und die Federn in Stellung zu bringen. Der Wutbürger ist das Salz einer Demokratie, der Shitstorm aber ihr Feind.
Auch Stéphane Hessel hatte erkannt, dass sein "Empört Euch" falsch verstanden worden war. Auch er war mit seiner nur 30 Seiten umfassenden Streitschrift dem Gesetz der Kürze erlegen. Deswegen veröffentlichte er ein paar Monate später quasi die Fortsetzung, die zeitlich eigentlich vorher entstanden war: dem "Empört Euch!" folgte der Aufruf: "Engagiert Euch!"