Das Horrorszenario, das Gewerkschaften und Beobachter längst befürchtet hatten und das sich in den letzten Tagen angedeutet hat, ist eingetreten: Der Stahlriese ArcelorMittal will die "Kaltstahl-Produktion" im Raum Lüttich um mehr als die Hälfte zurückfahren.
Sieben von zwölf Standorten sollen dicht gemacht werden. Die Werke von Chertal, Tilleur, Flémalle und Marchin stehen vor dem Aus. Hinzu kommt die Kokerei in Seraing. 1.300 der noch verbleibenden 2.700 Arbeitsplätze im Lütticher Becken stehen auf der Kippe.
"Das war doch absehbar", donnern die Gewerkschaften, die den politisch Verantwortlichen Untätigkeit, Passivität, Desinteresse vorwerfen. In der Tat: Nachdem ArcelorMittal im Oktober 2011 das definitive Ende der Warmstahlproduktion in Lüttich angekündigt hatte, waren die verbleibenden Produktionsparten angezählt - so stand es zumindest zu befürchten.
"Warmstahl", das bedeutet: Hochöfen, Warmwalzwerk, ... eben die Produktion von Rohstahl. Der musste also in Zukunft erst über weite Strecken - nämlich aus dem französischen Dünkirchen - nach Lüttich transportiert werden, um dort dann veredelt werden zu können. Dass diese "Kaltstahl-Produktion" auf Dauer gefährdet war, weil eben das Rohmaterial nicht mehr vor Ort hergestellt wurde, auf diese Gefahr hatten die Gewerkschaften von Anfang an hingewiesen.
Es ist vielmehr das Tempo, das selbst die größten Pessimisten überrascht. Dass das nächste Erdbeben so schnell folgen würde, damit hatte bis vor kurzem niemand gerechnet. In den letzten Tagen allerdings gab es eine Fülle von Zeichen. Seit einiger Zeit wurden die Lager der betroffenen Standorte buchstäblich leergeräumt, eine außerordentliche Sitzung des Betriebsrates war anberaumt, wenige Stunden zuvor wurde Robrecht Himpe, der große Europa-Chef von ArcelorMittal, in Brüssel gesichtet.
Das alles ändert natürlich nichts daran, dass die Ankündigung die betroffenen Mitarbeiter ins Mark trifft. Ein Wort ist in aller Munde: Verrat. "ArcelorMittal führt uns doch seit Jahren an der Nase herum", bringt ein Gewerkschafter das allgemeine Grundgefühl auf den Punkt. "Wir sind Opfer eingegangen, haben Personalkürzungen hingenommen, haben alles daran gesetzt, unsere Standorte zu retten. Und was ist das Resultat? ArcelorMittal lässt uns fallen, genau wie am 14. Oktober 2011, als das Ende der Warmstahlproduktion angekündigt wurde."
Und für viele der inzwischen desillusionierten Arbeiter ist das endgültig der Anfang vom Ende des Lütticher Stahlbeckens in seiner Gesamtheit. "Wir haben nichts mehr zu verlieren", sagt ein anderer Gewerkschafter. "Entsprechend werden wir jetzt umso entschlossener kämpfen. Die Politik hatte ja offensichtlich schon seit längerer Zeit aufgegeben."
Wallonische Region machtlos
Die Politik habe die Arbeiter fallen gelassen, beklagen die Gewerkschaften. Dabei geben sich jetzt alle Verantwortungsträger die größte Mühe, den Betroffenen gegenüber ihre Solidarität zu bekunden. Premier Di Rupo etwa hat seinen Besuch beim Weltwirtschaftsforum in Davos abgebrochen und auch eine Auslandsreise kurzfristig abgesagt.
Er verstehe die Wut der Arbeiter, sagt der Wallonische Wirtschaftsminister Jean-Claude Marcourt (PS). Er denke aber, dass der Schuldige anderswo sitze. Der Fall ArcelorMittal sei doch vergleichbar mit Ford-Genk, es gehe allein um die Gewinn-Optimierung von Multinationals.
Hier spricht letztlich die Hilflosigkeit, die Ohnmacht. Die Wallonische Regierung ist angesichts der Entscheidungen eines Multinationals wie ArcelorMittal ziemlich machtlos. Im Endeffekt ist man vom Gutdünken der Verantwortlichen abhängig. Das geht so weit, dass Arcelor sich nach dem Ende der Warmstahlproduktion schlicht und einfach geweigert hat, die Standorte abzugeben und einem potentiellen Investor zu überlassen.
Das sollte diesmal aber anders laufen, zeigt sich Marcourt überzeugt. Er könne sich nicht vorstellen, dass ArcelorMittal auch auf den jetzt verurteilten Werken sitzenbleiben könne. Also: die Region will offensichtlich nach einem Übernahmekandidaten suchen. Noch ist also vielleicht nicht alles verloren.
Bild: Eric Lalmand (belga)