Quizfrage: Wer ist eigentlich EU-Industrie-Kommissar? Upps! Zum Glück gibt's Internet: Antonio Tajani heißt der Mann. Der galt schon kurz nach Amtsantrieb unter Beobachtern als "Totalausfall", diese unflätige Einschätzung hat der Italiener bis heute nicht wirklich widerlegen können.
Profilieren konnte sich der Mann bislang jedenfalls nicht. Der breiten Öffentlichkeit ist er kein Begriff. Allein das sollte Grund genug sein, dass man bis auf weiteres besser nach einem anderen vermeintlich rettenden Ufer Ausschau halten sollte.
"Die EU muss helfen, Belgien allein steht auf verlorenem Posten". Das meistgehörte Mantra in diesen Tagen. Prinzipiell stimmt das auch. Dass Ford-Genk schließen muss, ähnlich wie vorher Renault-Vilvoorde oder Opel-Antwerpen, das ist signiert. Kleines Land, kleiner Markt, kleine Lobby, noch dazu zersplitterte politische Zuständigkeiten und gemeinschaftspolitischer Dauerknatsch. All das ist - unabhängig von allen möglichen ökonomischen Argumenten - für Multinationals fast schon eine Einladung, eben im Zweifel ein Werk in Belgien zuzumachen.
Hier könnte und hier müsste die EU Abhilfe schaffen. Jene EU, die in nahezu allen Bereichen - übrigens zu Recht - gemeinsame Standards festlegt, die es sich doch zum Ziel gesetzt hat, einen einheitlichen Wirtschaftsraum zu schaffen, und der demzufolge nicht daran gelegen sein kann, wenn sich Länder gegenseitig ausstechen, wenn in Frankreich die "chemise" und in Deutschland das Hemd noch immer näher als der Rock ist.
Es bedarf gemeinsamer sozialer Mindeststandards in Europa, damit eben nicht offen Lohndumping betrieben werden kann. Es bedarf einer EU-Industrie-Politik, die den Namen verdient, um einen Ausweg aus der Krise zu finden. Auch die Mitarbeiter von Ford Valencia (das ja jetzt die Produktion von Genk übernimmt) dürften wohl in ihrem tiefsten Inneren ahnen, dass ihnen auf Dauer wohl ein ähnliches Schicksal droht, wenn Ford -auf der Suche nach immer noch günstigeren Bedingungen - wieder weiterzieht.
Allerdings: Wenn die EU, die ja angeblich sonst so einen Regulier-Eifer an den Tag legt, das geschehen lässt, dann weil das - direkt oder indirekt - so gewollt ist.
Mr. Unbekannt, seines Zeichens EU-Industrie-Kommissar, sollte doch Beweis genug dafür sein, wie ernst es die EU von heute mit der gemeinsamen Industrie-Politik meint. Zugegeben, seinen Vorgänger kannte man durchaus, der hatte auch Format, das war Günter Verheugen, einst Intimus des deutschen Bundeskanzlers Gerhard Schröder. Aber, wie nannte man Schröder doch gleich? Autokanzler! Böse Zungen behaupten, Deutschland habe den gewichtige Verheugen nur aus einem Grund mit aller Macht auf den Stuhl des Industriekommissars gehievt - eben um eine gemeinsame Industrie-Politik in der Automobilbranche zu verhindern.
Denn es ist doch für die Hersteller viel angenehmer, wenn es einen Wettbewerb unter den Standorten gibt, dann bekommt man nämlich am Ende die Bedingungen auf den Leib geschneidert. Ob nun "Verheugen-Effekt" oder nicht: Das ist im Moment in jedem Fall die Situation.
Der Ruf nach Europa ist legitim. Und eine EU mit einer wirklich verzahnten, ernstgemeinten, gemeinsamen Sozial- und Wirtschaftspolitik, das ist ein durchaus erstrebenswertes Ziel. Bislang ist es aber eben nicht mehr. Deshalb gilt: Das Europa, das Belgien helfen könnte, das gibt es noch nicht. Und es steht zu befürchten, dass das auch noch eine Zeitlang so bleibt.
Der Ruf nach Europa ist denn auch - zumindest wenn's zum politischen Programm wird - nichts anderes als ein Feigenblatt. Es entsteht nämlich der Eindruck, dass so mancher sein Heil nur in der EU sucht, um sich selbst aus der Verantwortung zu ziehen. Mitunter sind es sogar dieselben Leute, die die EU üblicherweise als Quelle aller Probleme brandmarken, die plötzlich Brüssel als mögliche Lösung entdecken. Die Rede ist hier etwa von den Gewerkschaften.
Im Augenblick ist es jedenfalls vor allem das linke politische Spektrum, das die Unzulänglichkeiten der EU in den Vordergrund stellt, damit will man ganz deutlich von den eigenen Heiligen Kühen ablenken. Allerdings: Nur weil der Kapitalismus fehlgeleitet ist und die EU eben noch nicht ideal, nur weil es erwiesenermaßen eine innereuropäische Wettbewerbsverzerrung gibt, ist das immer noch kein Grund, sich dafür jeglicher Diskussion zu verschließen.
Im Gegenteil: Eben weil Belgien als kleines Land noch schneller auf dem Opferaltar der Multinationals landet, muss man sich schnellstens auf die Hinterbeine stellen. Belgien braucht einen veritablen New Deal! Und da ist kein Platz für ideologischen Starrsinn.
Und um Himmels willen, sehr geehrte Föderalregierung, verschont uns diesmal mit einem Flickenteppich, einem halbgaren, halbherzigen Käsehobel-Geraspel. Dieses Land braucht entschlossene Reformen, eine Neuausrichtung, einen Plan. Das bedeutet: Es müssen Entscheidungen getroffen werden, richtige Entscheidungen, eine klare Marschroute, ohne dass es eine Latte von Ausnahmeregelungen und Fußnoten gibt. Das gilt insbesondere für den Arbeitsmarkt. So tragisch das Schicksal der Ford-Mitarbeiter auch ist, sie mit 50 in Frührente zu schicken, das wäre das absolut falsche Signal.
Ford Genk ist mit Sicherheit ein Musterbeispiel für Raubtierkapitalismus in Reinform. Was den Mitarbeitern widerfährt, ist schlichtweg ekelhaft, dafür gibt es keine Worte. Tränen lügen nicht, der Redebeitrag der SP.A-Politikerin und Ford-Mitarbeiterin Meryame Kitir in der Kammer sprach Bände. Man kann und man muss das Verhalten von Ford anprangern. Und es ist in der Tat richtig, die EU als die Instanz aufzubauen, die solche Fehlentwicklungen abstellen kann.
Zwischendurch sollte man aber nicht vergessen, den Realitäten ins Auge zu sehen. Denn so falsch, grausam, zynisch, unmenschlich sie mitunter sein kann: Die Welt wartet nicht.