Es ist schon sonderbar, welche Blüten das Wahlfieber treibt. Oder war es schlicht Unwissen oder Überforderung? Es wird ja auch viel von ihr verlangt im Augenblick, von Frau Turtelboom, der Justizministerin: Da wollte sie doch punkten mit ihrem Versprechen, sich dafür einzusetzen, den Opfern von Straftaten oder ihren Angehörigen nach einem Urteil des Strafvollstreckungsgerichts das Recht einzuräumen, Berufung einzulegen.
Gehen wir einmal davon aus, dass die studierte Wirtschaftswissenschaftlerin und Dozentin für Produktvermarktung Turtelboom es einfach nicht wusste, dass bei Strafprozessen der Staat seine Normen und Interessen gegenüber den Norm- und Werteübertretungen durch Straftäter verteidigt. Die Zivilparteien haben dabei auch einen Platz, aber sie sind nicht Akteure.
Das war sozusagen die zweite große Strafrechtsreform in der Geschichte der Menschheit, nach dem "Auge für Auge, Zahn für Zahn" des Alten Testaments. Dieser blutig klingende Satz war ein gewaltiger Zivilisationssprung gewesen: Verordnete er doch einen Katalog bemessener Strafen, statt wie zuvor die ganze Siedlung nieder zu brennen und alle Stammesangehörigen des Missetäters tot zu schlagen. Die Strafverfolgung dem alleinigen Staat anzuvertrauen, statt wie zuvor dem Rachegefühl der Opfer war die zweite große historische Reform.
Bei der dritten großen Reform gehörte das junge Belgien nach Staatsgründung zu den Pionieren: Haftstrafen mit der Aussicht zu verbinden, das Gefängnis früher zu verlassen. Die Überlegung war, die Gefängniswelt lebbarer zu gestalten, nicht zuletzt für die Wärter, und gleichzeitig den Resozialisierungswillen der Täter zu wecken oder zu fördern.
Und jetzt erscheint ausgerechnet Michelle Martin wieder auf die Bildfläche und verengt den Blick auf die noch immer ungelöste Hauptaufgabe: die Gestaltung der Vorbereitung der Straftäter auf die Entlassung: Erhielte jeder der entlassenen Straftäter, ob nun nach einem Drittel, der Hälfte, vier Fünfteln oder der Gänze der Strafe auch nur ein Quäntchen der Aufmerksamkeit von Staat und Gesellschaft, mit der jetzt Michelle Martin überschüttet wird, wäre es um den Staat und die Gesellschaft besser bestellt.
Von einer echten Reform des Strafvollzugs - wie zum Beispiel auf der Insel Bastoy in Norwegen, wo die Strafgefangenen Eigenverantwortung lernen, wäre das noch weit entfernt. Dass die Bürgermeisterin der Brüsseler Gemeinde Forêt, Magda De Galan jetzt zusammen mit einem Gerichtsvollzieher amtlich feststellen ließ, wie viele Gefangene in einer Zelle einsitzen, stehen oder hocken, ist lobenswert, von einer Strukturreform aber noch weit entfernt. Unterstellen wir mal, dass es mit Wahlfieber und Wahlkampf nichts zu tun hat.
Archivbild: Eric Lalmand (belga)