Genau hier haben sich in Belgien in dieser Woche Grenzen aufgezeigt: Belgien droht nach der Abschaltung zweier Atomreaktoren möglicherweise der Blackout. Benzin und Diesel werden zunehmend unbezahlbar, aber die Öffentlichen Verkehrsmittel bieten häufig keine Lösung. Belgien ist - zumindest im Augenblick - nicht für die Zukunft gerüstet.
Mikrorisse und Makropreise machen den Belgiern derzeit das Leben schwer. Eins haben beide Probleme aber gemeinsam: Man hätte sie - zumindest in Teilen - vermeiden können.
Mikrorisse
Zunächst zu den Mikrorissen. Im Atomreaktor Doel 3 hat man Materialschwächen in der Reaktorwand festgestellt. Weil man sich noch kein klares Bild machen kann, bleibt der Meiler erstmal abgeschaltet. Und weil in Tihange 2 - in derselben Zeit gebaut - die gleichen Teile verwendet worden sind, hat man auch diesen Reaktor bis auf weiteres vorsichtshalber abgeschaltet. Resultat: Mit einem Mal steht die Versorgungssicherheit in Frage, droht im Falle eines kalten Winters möglicherweise sogar ein Blackout.
"Was zu beweisen war", werden jetzt die Befürworter der Kernkraft sagen, die immer als Argument vorgeschoben haben, dass man auf die nukleare Gotteskraft nicht verzichten kann. Mangels Alternativen.
Hier stellt man aber die Kausalität auf den Kopf, macht man eine Folge zur Ursache. Denn: Wenn es keine Alternativen gibt, dann, weil sie nie gefördert worden sind. Seit zehn Jahren eiert Belgien herum, beschließt 2003 den Atomausstieg, wobei die Hintertür so groß ist wie ein Scheunentor. Die Folge: Niemand sah sich dazu genötigt, den Atomausstieg vorzubereiten und alternative Energiequellen zu erschließen. Schlimmer noch: Weil Belgien eben so gar keinen Plan hatte, kein Energiekonzept der Zukunft, wurde schlicht und einfach überhaupt nicht mehr investiert. Resultat: Der belgische Energiepark ist, abgesehen von ein paar neuen Windrädern, gnadenlos rückständig. Schuld trägt hier allein die Politik, die es sträflich versäumt hat, klare Vorgaben zu machen und damit die Energiebranche unter Druck zu setzen.
Makropreise
Zweiter Dauerbrenner: die Makropreise. Kraftstoffe, allen voran Benzin und Diesel, sind so teuer wie nie zuvor, werden für viele zunehmend unbezahlbar. Die Regierung will erstmal keine Gegenmaßnahmen ergreifen; wie auch? Die Kassen sind leer.
"Gut so!", mag so mancher Umweltbewegter sagen. "Unser ökologischer Fußabdruck ist ohnehin viel zu groß; außerdem wird Erdöl auf absehbare Zeit bestimmt nicht billiger. Die Bürger werden erst ihr Verhalten ändern, wenn sie dazu genötigt werden, weil es quasi am eigenen Leib -sprich in der Brieftasche- beginnen, zu merken."
Eine solche Einstellung allerdings ist weltfremd. Denn: Selbst, wenn man sein Verhalten, seine Mobiltätsgewohnheiten, ändern will, dann muss man das auch erstmal können. Zugegeben: Der Staat kann keine Elektro- oder Brennstoffzellenmotoren herstellen. Muss er aber auch nicht. Es gäbe ja die Öffentlichen Verkehrsmittel. Die sind aber leider oft auch keine Alternative.
Das gilt in erster Linie für die SNCB. Wer sich jahrelang in viel zu regelmäßigen Abständen mit Verspätungen hat herumschlagen müssen, mit Streiks, kurzfristigen Zugausfällen, Pannen, überfüllten Waggons, absoluter Unfähigkeit, unvorhersehbare Situationen zu managen, der verliert am Ende die Geduld und seinen Idealismus gleich hinterher. Hinzu kommt, dass das Angebot - gerade in und um Brüssel - einfach nicht zeitgemäß ist. Stichwort S-Bahn, der famose RER, das regionale Expressnetz.
Das, was in deutschen und französischen Großstädten längst Standard ist, muss in Brüssel erst noch gebaut werden. Nachdem man eine halbe Ewigkeit über das Großprojekt geredet hat, braucht man jetzt die andere halbe Ewigkeit, es zu realisieren. Vor 15 Jahren war vom Horizont 2015 die Rede; das wäre ja schon bald! Aber Nein! jetzt wird 2022 angepeilt. Ganze Pendlergenerationen werden am Ende den RER nur als Wunschtraum, als Chimäre gekannt haben.
Auto einzige Lösung
Bleibt also in vielen Fällen wirklich nur das Auto. Und deswegen werden die Menschen ihr Verhalten nicht ändern, nur weil der Sprit zu teuer ist, sie werden sich vielmehr dumm und dämlich zahlen, zahlen müssen. Um sich dann in den dicksten Stau der Welt zu stellen. Denn auch das ist Belgien: Das Land, in dem man weltweit die längste Zeit auf der Autobahn herumsteht - schlimmer als Brüssel und Antwerpen ist nur noch Mailand.
Das alles auch, weil der Staat es nicht geschafft hat, mit der SNCB eine wirklich effiziente und schlagkräftige Alternative aufzubauen. Stattdessen gibt es jetzt eine dreiköpfige Hydra, drei Unternehmen, die sich gegenseitig Stöcke in die Beine stecken, und die einen Schuldenberg angehäuft haben, mit dem man die Belfius-Bank hätte kaufen können: vier Milliarden Euro. Die Dreiteilung der SNCB entspricht dem rein politischen Willen: womöglich hatte man da aber eher eine Pöstchenfabrik als ein wirklich effizientes Unternehmen vor Augen.
Umstrukturierungsplan für die SNCB
Der zuständige Minister für Staatsbetriebe, Paul Magnette, hat die Sache jetzt in die Hand genommen und gerade erst einen Umstrukturierungsplan für die SNCB vorgelegt: Die neue Struktur soll schlanker, übersichtlicher sein. Die Gewerkschaften haben allerdings schon ihre Ablehnung signalisiert. Zwar ist von Streik noch nicht die Rede, der gemeine Pendler kann sich aber -das lehrt die Erfahrung- schon einmal darauf einstellen.
Sollte die Neuausrichtung dann doch irgendwann gelingen, dann hat man womöglich auch wieder fast 10 Jahre verloren: die Dreiteilung in SNCB, Infrabel und SNCB-Holding stammt ja erst aus dem Jahr 2005.
Gerade in den zukunftsträchtigen Bereichen wie Energie und Mobilität ist Belgien also derzeit ziemlich schlecht gerüstet: ein Investitionsstau im Energiepark, ein ungenügend funktionierendes Öffentliches Verkehrswesen und damit verbunden: der tägliche Verkehrsinfarkt.
Hauptursache dafür ist der Hang der belgischen Parteien, sich in erster Linie um sich selbst zu kümmern, immer die nächsten Wahlen, den nächsten gemeinschaftspolitischen Kindergartenkonflikt vor Augen. Da bleibt für langfristige Visionen keine Zeit. Bis man von der Gegenwart rechts überholt wird...