Es klingt hart, aber es ist surrealistisch: Erinnern Sie sich an Melchior Wathelet senior? Das ist der, der jetzt in Straßburg befördert worden ist, beim Europäischen Gerichtshof. Er war zuvor Justizminister in Belgien, einmal sogar gleichzeitig Wirtschaftsminister und Minister für technologische Erneuerung. Technologische Erneuerung, das war wichtigdamals, und es klang fast despektierlich, als linksintellektuelle Kritiker dem damaligen Superminister vorwarfen, Justizpolitik sozusagen nebenbei, en passant, zu machen.
Surrealistisch auch Alexander De Croo. Das ist der Mann, der die Leterme-Regierung zu Fall brachte, weil er ultimativ die Spaltung von BHV forderte. Jetzt sagt er doch tatsächlich, er wolle, dass seine Partei an dem Erfolg der Justizreform gemessen werde, und kürzlich, nachdem der Mitarbeiter der Brüsseler Nahverkehrsgesellschaft tödlich zusammengeschlagen wurde, forderte er eine Politik mit dem Schlagwort der Null-Toleranz.
Druck für Ministerin Annemie Turtelboom
Ganz schön viel Druck für seine Ministerin Annemie Turtelboom. Aber Frau Turtelboom scheint hart im Nehmen, und was Surrealismus angeht, steht sie dem Altmeister Magritte nicht nach: "Nein, nein, niemals habe der Gerichtsbezirk deutscher Sprache zur Disposition gestanden", und auch nach dreimaligem erstaunten Nachfragen bleibt sie dabei. Anwaltskammer und PDG werden die Befürchtung ja nicht erfunden haben. Zudem war die Befürchtung nicht ohne Grund. Ein möglicher Grund wurde so nie genannt , er scheint mir aber nicht abwegig: Die OpenVLD hätte ja unberechenbar sein können , nach dem Moratorium des Eupener Parlaments in Sachen BHV. Natürlich wäre es irrational und erst recht surrealistisch gewesen, BHV durch ein EHV zu ersetzen, ein Eupen-Huy-Verviers, sozusagen als beleidigte Retourkutsche. Dass eine vollständige Autonomie noch nicht erreicht und noch wichtige Fragen offen bleiben, machte in dieser Woche der Eupener Gerichtspräsident deutlich.
Der Beginn einer Justizreform ist damit gemacht, durch die Verkleinerung der Anzahl der Gerichtsbezirke. Aber jetzt rächt sich, dass, trotz Dutroux die Reform so sehr auf die lange Bank geschoben wurde. Denn jetzt sind die schreienden Missstände im Strafvollzug hinzugekommen. Das heisst, schreiend waren sie auch vorher, aber nicht so öffentlich und angesichts der generellen Streikbereitschaft von Wärtern und Polizei nicht so dringend. Einer der Gründe liegt in einer doppelten Pervertierung des Systems: So gibt es zu viele Häftlinge in Untersuchungshaft, die dort nicht hingehören, ohne Verdunklungs- oder Fluchtgefahr, andererseits brauchen viele Straftäter, die zu kurzzeitigen Haftstrafen verurteilt werden, diese nicht anzutreten, weil es in den ohnehin überfüllten Gefängnissen keinen Platz für sie gibt. Das erklärte ein Insider und alter Hase wie RA Magnée in einer Fernsehdiskussion so: Nicht wenige Untersuchungsrichter oder Ratskammern entschieden auf U-Haft , wohl mit der Überlegung, dass sie darin die einzige Chance sähen, dass die Täter dann doch Bekanntschaft mit dem Gefängnis machten, weil, einmal zu einer kurzeitigen Haftstrafe verurteilt, sie dies nicht mehr müssten, mangels Platz, den Platz, den die U-Häftlinge einnehmen, die eigentlich nicht hin müssten. Surrealistisch, meinte auch Magnée achselzuckend, aber nichts anderes als die Folge des Fehlens einer ernsthaften Justiz- und Strafvollstreckungspolitik.
Erfolg fraglich
Viel Erfolg, Frau Turtelboom, Ihr Parteipräsident schickt sie auf eine "Mission Impossible". Aber sie sind ja hart im Nehmen. Surrealistisch nicht zuletzt deshalb, weil ihr Parteipräsident der neo-liberalen Strömung angehört, die Europa zusammen mit Merkel, Juncker und Barosso zu einer Rezession verurteilt, die weder für eine Justiz - noch eine Strafvollzugsreform einen finanziellen Spielraum lassen wird.
Keinen finanziellen Spielraum braucht es, um die lauten Überlegungen von Kris Peeters, flämischer Ministerpräsident, Renaat Landuyt,sp.a.-Justizbeauftragter und Joëlle Milquet, föderale Innenministerin, in die Tat umzusetzen, das allmächtige Verwaltungsgericht Staatsrat in einem fundamentalen Punkt zu reformieren, in dem Sinne, dass es nicht mehr aufgrund alleiniger formaljuristischer Feststellungen Entscheidungen gleich und rückwirkend für null und nichtig erklärt. Der Anlass war ebenso so surrealistisch wie erschreckend: Einem Polizeioffizier, der dem Vater einer vermissten Tochter 200.000 Euro abgreifen wollte, als Gegenleistung für Informationen, über die er nicht verfügte, war gekündigt worden. Dieser Polizist muss jetzt wieder in Dienst genommen werden, weil der Vorgesetzte, der ihn verhört hatte, nicht über das erforderliche SELOR-Sprachdiplom verfügte. Mal gespannt, ob dem Staatsrat ausgerechnet diese Befugnis, die Nichtigkeit aus sprachlichen Gründen wegzunehmen, wirklich weggenommen wird, angesichts des sakrosankten Charakters eben dieses Sprachaspekts.
Und mal gespannt, ob die Di Rupo-Regierung Fortschritte in Sachen Justiz und Strafvollzug schafft, und noch gespannter, ob Frau Turtelboom belgische Gefängnisse von 1830 in die Gegenwart katapultiert.
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