Seither ist es Schlag auf Schlag gegangen: Am Samstag gab es einen Haushalt, am Donnerstag konnten die Koalitionsverhandlungen offiziell abgeschlossen werden, Anfang kommender Woche soll endlich - über 540 Tage nach der Wahl - eine neue Regierung vereidigt werden. Eben diese anderthalb Jahre sollte man jetzt aber schleunigst abhaken.
Schwamm drüber! Die letzten anderthalb Jahre, streng genommen waren es mehr als vier Jahre, gehören bestimmt nicht zu den glücklichsten in der Geschichte des Landes. Das Land stand mehrmals buchstäblich am Abgrund - das Wort Zerreißprobe hat durch die belgische Dauerkrise quasi eine neue Bedeutung bekommen.
Klar hat die Dauerkrise Wunden gerissen. Klar konnten selbst Berufsoptimisten irgendwann nicht mehr umhin, sich die Frage zu stellen, ob das belgische Zusammenleben überhaupt noch Sinn macht. Und diese Wunden brauchen Zeit zum verheilen, und diese existentiellen Fragen sind auch nicht ihrer Grundlage beraubt, nur weil sich die Parteien jetzt nochmal zusammenraufen konnten. Klar bleibt die belgische Politik ein Drahtseilakt, können sich alte Dämonen sehr schnell und genauso polternd wieder zurückmelden.
Belgischer Kompromiss existiert noch
Dennoch sollte man zumindest für die Zeit eines Augenschlags auch mal diesen Moment zu würdigen wissen. Es gibt ihn noch, den belgischen Kompromiss. Flamen und Frankophone sind immer noch dazu imstande, ihr Zusammenleben neu zu ordnen. Dass hier die Extreme, also FDF und N-VA quasi gleich laut Verrat rufen, ist ein gutes Zeichen.
Gleiches gilt im Grunde für das sozial-wirtschaftliche Programm: Die einen sagen, die Reichen würden zu wenig zur Kasse gebeten, für die anderen zahlen die Unternehmen zu viel. Der eine bezeichnet den Haushalt als kommunistisches Manifest, der andere als neoliberales Machwerk. Klingt also nach einer ausgewogenen Geschichte. Ausgewogen wie ein Koalitionsvertrag sein muss, der von Flamen und Frankophonen, von Sozialisten und Liberalen unterschrieben werden muss.
Denn an dieser Konstellation war nun mal nichts zu ändern. Auch wenn die Wahl schon 500 soundsoviel Tage vorbei ist: Die Kräfteverhältnisse waren nun einmal so, wie sie waren.
Ein kleines "Wunder"ist geschehen
Und vor diesem Hintergrund sprach der Leitartikler von Het Laatste Nieuws auch zu Recht von einem kleinen "Wunder". Man darf, in der Tat, nicht vergessen, wo wir herkommen. Noch am 21. Juli hatte der König einen bemerkenswert nachdrücklichen Appell an die Politik gerichtet, sich doch endlich zusammenzureißen.
Noch vor vier Monaten stand im Grunde nichts, keine Staatsreform, keine Spaltung von BHV, keine Strukturreformen, kein Haushalt. Nichts. Mitte Juli war noch nicht mal klar, wer mit wem verhandelt, unter wessen Führung, und auch nicht, worüber: es hat nicht viel gefehlt, da wäre über die Spaltung des Landes verhandelt worden. Dann allerdings wären die Parteien wohl längst noch nicht am Ende.
Dass es eine Schwergeburt war, liegt in der Natur der Sache. Zu viel Ärger hatte sich angestaut, zu viel Frust, etwa bei den Flamen, die jahrelang mit ihren Forderungen nach Veränderung gegen eine Mauer angerannt sind, von den Frankophonen die süffisante Antwort bekamen, "man sei nicht die fragende Partei". Hier trafen letztlich Extreme aufeinander: Der eine sagte "schwarz", der andere "weiß", der eine sagte null, der andere hundert. Das man sich jetzt doch noch bei "grau" und 50 getroffen hat, ist bemerkenswert.
Wie gesagt: Es gibt ihn offensichtlich noch, den belgischen Kompromiss. Und das lässt hoffen. Denn ohne Kompromiss geht es nicht. Diejenigen, die behaupten, jeder Kompromiss sei grundsätzlich faul, die brechen im Endeffekt eine Lanze für Diktatur.
Doch bislang ist das Abkommen nicht mehr als nur ein Stück Papier - zugegeben: ein dickes Stück Papier: Ein Regierungsvertrag von 177 Seiten, damit dürfte die belgische Politik wohl noch einen weiteren Weltrekord aufgestellt haben.
Ein schleunigst umzusetzendes Programm
Es ist ein ambitiöses Programm, das jetzt allerdings schleunigst umgesetzt werden muss. Es wird keinen "Etat de grâce" geben, keine Schonfrist, denn eins sollten die Damen und Herren Politiker schon verinnerlichen: Wenn sie auch erwiesenermaßen die Quadratur des Kreises hinbekommen haben, die Geduld der Bürger ist erschöpft. Die Regierung muss jetzt von null auf hundert gehen, agieren, entscheiden, gestalten. Nur so kann ein Rück durch das Land gehen, um der Krise die Stirn zu bieten, nur so kann das fast gänzlich verspielte Vertrauen wiederhergestellt werden.
Keine Schonfrist wird es geben, aber auch keine Gnade. Keine Gnade seitens derer, die draußen geblieben sind. Vor allem die N-VA wird versuchen, quasi die Schwiegermutter zu geben, bei jeder Gelegenheit einem römischen Kaiser gleich von der Loge aus den Daumen heben und vor allem senken. Damit wird es einen ständigen Gefahrenherd geben. Denn eins ist sicher: Für OpenVLD und CD&V geht es praktisch ums Überleben. Indem sie sich mit den anderen ins Regierungsboot gesetzt haben, pokerten sie hoch: Entweder, man schafft es, klare Fakten zu schaffen, und gräbt damit der N-VA das Wasser ab. Oder eben, man hat 2014 eine bestenfalls halbgare Bilanz aufzuweisen, und treibt damit noch mal Wähler in die Arme der Nationalisten. Es gibt nur diese beiden Möglichkeiten.
Das sollten auch die Frankophonen vor Augen haben. Wenn ihnen der belgische Kompromiss, Belgien insgesamt wirklich am Herzen liegt, dann haben auch sie ein Interesse daran, die N-VA faktisch überflüssig zu machen. Denn sonst wird 2014 nur noch über die Spaltung verhandelt.
2014, nur dieses Datum sollten, müssten jetzt alle Beteiligten vor Augen haben. Im Sinne des Landes und seiner Bürger, aber auch im eigenen Interesse. So sehr man sich in den letzten anderthalb Jahren auch zerstritten, fast schon zerfetzt hat, jetzt gilt eben nur eins: Schwamm drüber!
Archivbild: Nicolas Maeterlink (belga)