Dabei steht zu hoffen, dass die Politik nicht ihre ganze Kreativität in diese institutionelle Feinmechanik gesteckt hat. Denn "jetzt erst recht" sind mutige und entschlossene Entscheidungen gefragt.
Irgendwie tragisch: 16 Monate lang arbeiten eine Handvoll Politiker und unzählige ungenannte Ameisen im Hintergrund quasi pausenlos an einer Staatsreform: man streitet sich, man feilscht, man taktiert, man redet nicht mehr miteinander, dann doch wieder, verschleißt Prä-Formateure, Vermittler, Schlichter, man tanzt sich – Derwischen gleich - in eine fast schon rauschähnliche Endlosschleife und taumelt dabei kollektiv bis an den äußersten Rand des Abgrunds, und... kriegt dann wider Erwarten doch noch die Kurve.
Und dann, wenn die sechste Staatsreform einmal fertig ist, wenn man es doch noch geschafft hat, ein unmöglich geglaubtes Gleichgewicht zu finden, wenn die Hebammen schweißgebadet aus dem Kreißsaal kommen, um ihr Baby stolz zu präsentieren... nimmt es niemand wirklich zur Kenntnis. Zumindest nicht so, wie es sein sollte.
Denn dieser 11. Oktober 2011, der wird in die belgische Geschichte eingehen als der Tag, an dem amtlich war, dass Flamen und Frankophone doch noch ihren Weg gemeinsam fortsetzen wollen.
In erster Linie ist es das, was die Einigung historisch macht: Flamen und Frankophone mit ihren lange unüberbrückbaren Gegensätzen haben sich noch einmal zusammengerauft. Denn Vorsicht: Am Ende, als wirklich alle Nerven blank lagen, war alles möglich. Wirklich alles. Das Land stand vor dem Zerreißen. Und ob es insbesondere denjenigen, die Belgien ausschließlich als eine "synthetische Verbindung wider Natur" betrachten nun passt, oder nicht: das Land zu spalten, war keine Option: Zu komplex, zu langwierig, zu hasardös und deswegen auch viel zu riskant in Zeiten, wo die Märkte sich schon für viel weniger auf ein Land einschießen. Davon abgesehen: Entweder, wir sehen endlich ein, dass wir in einem Boot sitzen, oder wir gehen gemeinsam unter - das zeigt im Übrigen auch das Beispiel Griechenland.
Belgier stellen Zusammenleben noch einmal auf neue Grundlage
Das war auch nötig, nicht nur, weil die Flamen es nachdrücklich gefordert haben, sondern weil es dazu geführt hat, dass die Zuständigkeiten in diesem Land jetzt homogener, logischer, klarer geordnet bzw. abgegrenzt sind; dass die Teilstaaten verstärkt selbst für ihr Schicksal verantwortlich sind und demzufolge auch verantwortlich gemacht werden können.
Von der Umsetzung dieser sechsten Staatsreform wird abhängen, wie die siebte aussehen wird: Wenn jeder aufrichtig und verantwortungsvoll mit seinen neuen Befugnissen umgeht, wenn er sie als Chance begreift, seine jeweilige Region oder Gemeinschaft wirklich in eine bessere Zukunft zu führen, sich zu emanzipieren, dann muss die nächste Etappe nicht die Spaltung sein. Wenn alle irgendwann zumindest halbwegs auf Augenhöhe sind, wenn der Flame nicht mehr den Eindruck hat, sein Geld in ein Fass ohne Boden zu schaufeln, dann wäre vielleicht auch endlich ein reifer Umgang miteinander möglich.
Die acht Parteien um Elio Di Rupo – mitunter am Rande der Selbstaufgabe - haben dem belgischen Kompromiss noch einmal zur Ehre gereicht, Belgien noch eine Chance gegeben - vielleicht die letzte, aber dennoch: das ehrt sie. Darauf können sie zu Recht stolz sein. Allerdings nur für 30 Sekunden.
Zwei Katastrophen suchen Belgien ein
Denn jetzt hat die so sträflich vernachlässigte Realität das Land eingeholt. Und zwar mit voller Wucht. Dexia und ArcelorMittal: Zwei Katastrophen, die mit Sicherheit nicht ohne Folgen bleiben werden.
Im Fall Dexia hat sich der Staat – mal wieder - in Unkosten stürzen müssen, um eine Privatbank zu retten, die sich unter anderem mit den Einlagen belgischer Sparer verzockt hat - und das auf Kosten der belgischen Gemeinden und Regionen, für die bis auf weiteres das dicke Ende bestimmt ist. Gleich, wo der finanzielle Schaden am Ende landet: Die Rechnung bekommt ohnehin der Steuerzahler präsentiert. Ganz zu schweigen von den langfristigen Risiken, Stichwort: Bürgschaft von 54 Milliarden Euro.
In Lüttich stehen die Zeichen auch auf Zeitenwende. Hier macht sich ein Firmenchef, der mehr Investor denn Stahlunternehmer ist, durch die Hintertür davon, nachdem oder ungeachtet dessen, dass man ihm Steuervorteile und Emissionsrechte in Milliardenhöhe zugeschnitten hatte. In die Röhre gucken die Arbeiten, die sich aufopferungsvoll engagiert haben, um ihr Werk zu erhalten.
Regierungsbildung auf der einen, Auswüchse eines zügellosen Kapitalismus' auf der anderen Seite: das könnte sich als explosives Gemisch erweisen. "Jetzt erst recht" dürfte es für die künftige Regierung sehr schwierig werden, den Bürgern die schmerzhaften Sparmaßnahmen, die da kommen werden, zu "verkaufen". Denn dass sie schmerzhaft werden, das ist so "sicher wie das Amen in der Kirche". Acht Milliarden, allein in diesem Jahr, die kann man nicht herzaubern.
Man darf sich da jedenfalls nicht wundern, wenn sich der Bürger wie der alleinige Dumme vorkommt: Auf der einen Seite Investoren, die auf der Suche nach höheren Gewinnen wie Heuschrecken weiterziehen und dabei Brachlandschaften hinterlassen. Auf der anderen Seite Banken, die erst astronomische Gewinne einfahren und unter Ihresgleichen verteilen, ihre Verluste dann aber durch die Öffentliche Hand übernehmen lassen. Und dann der Bürger, der den Gürtel enger schnallen muss: Das kann den Glauben in ein System ins Wanken, und auch ein soziales Fass zum Überlaufen bringen.
Dabei wären wir eigentlich gut beraten, die Zeichen der Zeit nicht zu verkennen. Die Zeitung "Le Soir" brachte es auf den Punkt: "Wir müssen uns die Frage stellen, Belgier wie Europäer, ob wir nicht dazu verdammt sind, zu verarmen". Die Frage ist allein angesichts der Ereignisse dieser Woche mehr als gerechtfertigt.
Um zu verhindern, dass unser System gegen die Wand fährt, gibt es nur eins: resolut nach vorn blicken. Es wäre jedenfalls sinnlos, müßig, Zeitverschwendung, jetzt zu lamentieren, was wohl im Fall Dexia schief gelaufen, wie zynisch ein Herr Mittal oder wie unmenschlich der Kapitalismus sein kann. Da Belgien bis zum Beweis des Gegenteils keine Insel ist, wären alle gesellschaftlichen Akteure - Politiker, Verbände und auch die Bürger - vielmehr gut beraten, die Herausforderungen, die sich längst abzeichnen, erstmal anzunehmen.
Deswegen der Appell an die Brüsseler Politik: alle Beteiligten müssen bei der jetzt anstehenden Haushaltsrunde noch einmal genau so viel Mut, Kreativität und Entschlossenheit aufbringen, wie bei der Ausarbeitung der Staatsreform. Denn eins muss klar sein: es reicht nicht, dem Land –wie früher- einen Mix von halbherzigen Therapien zu verschreiben. Man muss, im Gegenteil, den bisherigen Denkrahmen sprengen, neue Wege gehen, tabulos ideologische Dogmen beiseitelassen. Wie die Lösung im Einzelnen aussehen soll, dafür gibt es vielleicht kein Patentrezept. Doch zumindest eins sollte man verinnerlichen: so wie bisher kann und darf es nicht weitergehen. Die Ereignisse dieser Woche sind ein Zeichen an der Wand: Wer die Augen verschließt, der belügt sich selbst.