Man könnte es sich jetzt sehr einfach machen. Je nach der Brille, die man auf hat. Der Politiker kann sich sagen: "Was mischt sich da die Justiz in die Angelegenheiten der Politik ein? Ein Magistrat soll dafür sorgen, dass die Gesetze angewandt werden. Sie zu schreiben, das ist Sache der Politik. Punkt".
Der Linke kann sich sagen: "Wieder einmal eine dieser groben Verallgemeinerungen, wieder wird ein pauschaler Zusammenhang zwischen Missständen und Zuwanderung hergestellt. Man blendet bewusst Grundprobleme aus, die die Migranten überhaupt erst in ihre Lage bringen. Das ist so grob, hier schwingt latenter Rassismus mit... darauf muss man gar nicht antworten. Punkt".
Der Rechts-Konservative kann sich sagen: "Na bitte, ich hab's doch immer gesagt. Wenn jetzt auch schon hohe Justizvertreter meine Meinung bestätigen, worauf wartet die Politik denn jetzt noch, um endlich die Probleme in gewissen Großstadtvierteln anzugehen. Punkt".
Nicht, um eine Plattitüde zum Besten zu geben, aber: Die Wahrheit liegt bekanntlich in der Mitte.
Grundsätzlich muss man sagen: Wer, wenn nicht Magistrate wäre wohl besser platziert, um die Situation auf dem Terrain so weit wie möglich objektiv zu beurteilen? Man sollte davon ausgehen, dass die Missstände, die die Antwerpener Magistrate anprangern, nicht aus der Luft gegriffen sind, also konkret: Dass unser Sozialsystem systematisch missbraucht wird, wohl sogar in großem Stil, wie es die beiden Justizvertreter ja darstellen.
Grundsätzlich muss man den Herren Liégois und Van den Bon auch Recht geben: Die faktische Nicht-Ahndung von offensichtlichem Sozialbetrug ist ein Schlag ins Gesicht für all diejenigen, die brav ihre Steuern und Abgaben bezahlen. Und das kann auf Dauer zu Spannungen führen, den Rechtsstaat diskreditieren und ihn damit in gewisser Weise auch in Gefahr bringen.
Grundsätzlich ist es richtig, die Dinge beim Namen zu nennen
Man führe sich da das niederländische Beispiel vor Augen. Holland galt jahrzehntelang als Inbegriff für Toleranz, eine Muster-Multikulti-Gesellschaft. Irgendwann musste man aber schmerzlich feststellen, dass das nur Fassade war, dass alle Probleme unausgesprochen unter dem politisch-korrekten Teppich lagen. Bis irgendwann das Pendel mit voller Wucht in die andere Richtung ausschlug und dann gleich auch Leute wie zunächst Pim Fortuin und heute Geert Wilders nach oben gespült wurden.
Eine mögliche Lehre daraus wäre es also, Probleme eben nicht zu tabuisieren, sondern zu thematisieren, sie offen anzusprechen. Auf die Gefahr hin, dass man einen Schwelbrand zu spät bemerkt und es eine plötzliche Stichflamme gibt.
Insofern gilt: Wenn schon von der Gefahr eines Endes der Demokratie die Rede ist - der Antwerpener Generalprokurator betrachtet das Risiko als gegeben, dann gilt das mit Sicherheit auch für eine Gesellschaft, die nicht dazu in der Lage ist, Missstände anzusprechen. Jedem, der Angst hat, damit den Rechtsradikalen in die Karten zu spielen, dem sei gesagt: Wer immer gleich die Rassismuskeule auspackt, wenn auch nur das Wort "Zuwanderung" fällt, der sorgt auch für eine Radikalisierung, dann eben nur im Verborgenen. Wie gesagt: einen Schwelbrand.
Eine Demokratie, die auf soliden Grundfesten steht, muss jegliche offene Diskussion aushalten, auch, wenn's um heikle Probleme geht.
In diesem Sinne kann man den beiden Antwerpener Magistraten zu Gute halten, dass sie flagrante Missstände ausgesprochen haben. Schade nur, dass sie dabei gleich das Kind mit dem Bade ausgeschüttet haben.
Um es einmal drastisch zu formulieren: Wenn man die Magistrate so hört, dann könnte man meinen, sie verwechselten Zuwanderung mit der Beulenpest. Pauschal, und insofern haben auch die Linken Recht, pauschal zu behaupten, die Asyl- und Einwanderungspolitik sei gescheitert, ist schlicht und einfach unhaltbar. Ganz zu schweigen von der Wortwahl: Von "Krebsflecken" ist da die Rede, wo menschliches Treibgut durch Asyl und Migration angespült wird, und wo - Zitat - "sozial-wirtschaftlich destabilisierende Praktiken zunehmen". Diese Missstände könnten der Sozialen Sicherheit auf Dauer den Hals brechen. Unverschämter hat wohl selten jemand Zuwanderung und Kriminalität in einen Topf geworfen, gar schon für das drohende Ende der Sozialsysteme verantwortlich gemacht. Fehlt noch der atomare SuperGAU.
Und wenn man die Magistrate so hört, dann entsteht zudem der Eindruck, die Politik bliebe vollkommen untätig, ob nun aus ideologischen Gründen oder schlicht und einfach aus Unvermögen.
Und welche Schlussfolgerung zwingt sich da auf?
Nimmt man die beiden Antwerpener Magistrate beim Wort und zählt eins und eins zusammen, dann sähe das Fazit so aus: "Die Welt geht den Bach runter und die Politik schaut zu!" Wer da noch von einer Gefahr für die Demokratie schwadroniert, der scheint nicht bemerkt zu haben, wie systemgefährdend -weil von Grund auf antipolitisch- seine eigenen Predigten sind.
Naja, in einem Punkt muss man den Magistraten dann wieder Recht geben: Die Politik hat in diesem Land wirklich schon glanzvollere Zeiten erlebt. Man darf der amtierenden Regierung Leterme II bescheinigen, dass sie ihr Möglichstes tut. Fakt ist aber, dass eine geschäftsführende Regierung - und damit verbunden - ein, sagen wir mal, etwas orientierungsloses Parlament nicht in der Position sind und auch beim besten Willen nicht die Möglichkeit haben, Politikfelder wie die Asyl- und Einwanderungspolitik einmal grundlegend neu zu überdenken - gleich, für welche ideologische Richtung man sich am Ende entscheidet. Hauptsache, es GÄBE mal ein Konzept.
Und da wären wir wieder bei der Feststellung, die 'gefühlt' - man mag die Tage, Wochen oder Monate nicht mehr zählen - seit einer halben Ewigkeit zutrifft: In diesem Land bleiben grundsätzliche gesellschaftliche Fragen ungelöst, sie müssen Windmühlen wie BHV weichen. Kann kommen, was will. Sehr geehrte Herren Liégois und Van den Bon: Mit Verlaub, aber dieser politische Stillstand, das ist die eigentliche, die größte Gefahr für die Demokratie in diesem Land.