Noch ist Belgien vom Würgegriff der Spekulationen auf den Finanzmärkten verschont geblieben, doch aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Zwar ist unser Zinssatz auf Staatsanleihen gegenüber Deutschland in jüngster Zeit gestiegen, doch noch steht Belgien mit gut vier Prozent weit besser da als Griechenland oder selbst Spanien und Italien.
Wie gesagt: Noch, denn die Lage könnte sich auch für unser Land schon bald verschlechtern, wenn in Brüssel nicht bald eine neue Föderalregierung zustande kommt, die die nötigen Reformen anstößt, um das Haushaltsdefizit auf Kurs zu halten und somit die Staatsschuld weiter verringert wird.
Nachdem das Warten auf die neue Regierung inzwischen seit 432 Tagen dauert, sind sich die Spitzenvertreter der acht verhandelnden Parteien bewusst, dass die Zeit drängt. Mehr noch, der jetzige Anlauf ohne die N-VA ist die letzte Chance, eine Regierung auf die Beine zu bringen. Sollte auch die ungenutzt verstreichen, führt an vorzeitigen Neuwahlen wohl kein Weg mehr vorbei, auch wenn jeder weiß, dass es danach noch schwerer sein dürfte und das Land dann möglicherweise mit der Spaltung konfrontiert wird.
All das ist den Männern und Frauen am Verhandlungstisch bekannt, doch reicht dieser Druck, damit sie sich endlich auf ein Koalitionsabkommen einigen ?
Man darf es zwar hoffen, doch gibt es auch für diesen Anlauf vorab keine Erfolgsgarantie. In den letzten Tagen war oft zu hören, dass es ohne die N-VA wesentlich leichter wird, doch das ist wohl etwas zu optimistisch. Vergessen wir nicht, dass die flämischen Christlichsozialen von der CD&V die Latte in Sachen BHV und Staatsreform für die frankophone Seite nach wie vor sehr hoch legen. Die CD&V hat sich zwar aus dem Windschatten der N-VA gelöst, doch gerade deshalb wird sie sich nicht mit weniger zufrieden geben als mit einer Formel, mit der sie erhobenen Hauptes vor die flämische Öffentlichkeit treten kann, ohne beim nächsten Urnengang eine weitere Abfuhr befürchten zu müssen.
Sind die frankophonen Parteien inzwischen reif genug, um auf die von Flandern geforderte Staatsreform mit bedeutenden Kompetenzübertragungen an die Teilstaaten einzugehen? Sicher ist das nicht, doch es gibt Anzeichen, die darauf hindeuten.
Lange werden wir auf die Antwort ohnehin nicht warten müssen, denn bei den wieder aufgenommenen Verhandlungen werden BHV und die Staatsreform auf ausdrücklichen Wunsch der CD&V zuerst behandelt. Erst wenn eine gemeinschaftspolitische Einigung unter Dach und Fach ist, kommt das sozialwirtschaftliche Kapitel an die Reihe, also unter anderem die Maßnahmen, um bis 2015 mindestens 22 Milliarden Euro teils zu sparen, teils durch zusätzliche Einnahmen für die Staatskasse zu erschließen. Maßnahmen, die im Prinzip fast einen jeden von uns in der einen oder anderen Form mehr oder weniger stark zur Kasse bitten werden.
Zu glauben, dass dies ein Kinderspiel sein wird, wenn erst einmal die Staatsreform und BHV vom Tisch sind, ist zweifellos ein Trugschluss. Vergessen wir eines nicht: Am Verhandlungstisch gibt es nicht nur flämisch-wallonische Gegensätze, sondern auch ein starkes links-rechts Gefälle. Konkret gesagt, die Liberalen werden sicherlich für drastische Einsparungen plädieren, während die Sozialisten für höhere Steuern, vor allem zu Lasten der besser Betuchten eintreten. Auch hier dürfte ein Kompromiss alles andere als einfach sein.
Trotzdem ist jetzt die Hoffnung, dass es diesmal klappen wird, mehr als bisher berechtigt. Dafür gibt es zwei wesentliche Gründe. Zum einen sitzt die N-VA, wie bereits gesagt, nicht mehr mit am Tisch, und zum anderen spüren Di Rupo und die Präsidenten der acht Verhandlungsparteien jetzt den Druck eines neunten, unsichtbaren Beobachters: der Finanzmärkte. Die Gefahr, dass bei einem erneuten Scheitern der Verhandlungen die Zinsen auf belgische Staatsanleihen deutlich steigen und somit wir alle ärmer werden, müsste eigentlich dafür sorgen, dass endlich die Vernunft siegt.
Noch ist eine Einigung möglich, mit der bewiesen werden könnte, dass eine große Staatsreform und eine neue Regierung ohne die flämischen Nationalisten der N-VA möglich sind. Ein zweites Mal wird es diese Chance nicht geben. Jetzt oder nie.