Erste Feststellung: die N-VA will alles und sofort
Die Haltung der N-VA ist zwar aus der Sicht der Sorge um Belgien und seine Bevölkerung unverantwortlich, aber wahltaktisch irgendwie verständlich. Die N-VA hat die Wahl gewonnen und hat dank ihrer unnachgiebigen Haltung gegenüber den Frankophonen in Flandern mehr denn je den Wind in den Segeln. Einer jüngsten Meinungsumfrage zufolge kommt sie mittlerweile auf 35 Prozent. Mehr als jeder dritte Flame schenkt ihr sein Vertrauen.
Dieser unglaubliche Siegeszug hat die Partei überheblich gemacht. Sie will nur einer Regierung beitreten, die das Parteiprogramm der N-VA praktisch 1:1 übernimmt. Die Kompromissbereitschaft der De-Wever-Formation tendiert gegen null.
Dahinter steht wohl die folgende Überlegung: Würde die neue Regierung das N-VA-Programm übernehmen, hätten die flämischen Nationalisten ihr Ziel erreicht. Lehnen die Frankophonen dies ab, dann bleibt die N-VA eben außen vor und geht in die Opposition.
Damit befindet sich die Partei in einer sogenannten Win-Win-Situation: Sie kann eigentlich nur gewinnen. Entweder es kommt eine Regierung, die sich ihr Programm zu Eigen macht, oder es kommt keine Regierung und Belgien ist auf Dauer dem Ende geweiht. Auch das würde die N-VA nicht im Geringsten stören, denn ihr endgültiges Ziel ist bekanntlich die flämische Unabhängigkeit. Kein Wunder also, dass De Wever sich unnachgiebig und kompromisslos zeigt.
Die CD&V hat einmalige Chance, sich selbst und Belgien zu retten
Die einzige Partei, die ihr einen dicken Strich durch diese Rechnung machen könnte, ist die einstmals staatstragende CD&V, die, mit Leuten wie Tindemans, Martens und Dehaene, Staatsmänner hervorgebracht hat, die heute ihre eigene Partei nicht mehr verstehen. Sie verstehen genau so wenig wie jeder, der 2 und 2 zusammenzählen kann, wie es möglich ist, dass CD&V-Chef Wouter Beke den Kurs seiner Partei ohne Wenn und Aber zu hundert Prozent auf die von der N-VA vorgegebene Richtung gebracht hat.
Das führte soweit, dass er in den vergangenen Tagen jegliche Verhandlung über die Basisnote von Regierungsbildner Di Rupo ablehnte, nur weil die N-VA dies auch getan hatte. Am Freitag machte er zumindest die Konzession, den Präsidenten der übrigen sieben Parteien, die sich verhandlungsbereit gezeigt hatten, zu erläutern, weshalb das in dem Di-Rupo-Papier enthaltene Kapitel Staatsreform für seine Partei so lange unannehmbar ist, bis die Frankophonen bereit sind, die entsprechenden Vorschläge der CD&V praktisch integral zu übernehmen.
Ob es dazu kommt, wird sich wohl bald zeigen, doch, ganz unabhängig davon, müsste Wouter Beke und die restliche Führungsspitze der CD&V doch einsehen, dass eine Partei, die sich voll und ganz einer anderen unterwirft, jegliche Daseinsberechtigung verliert. Weshalb soll ein Flame denn noch die Christlichsozialen wählen, wenn diese nichts weiter sind als eine Kopie der N-VA. Dann wird man doch gleich lieber für das Original stimmen.
Dabei hat die CD&V jetzt die einmalige Chance, aus dem Schatten De Wevers herauszutreten, sich ein eigenes Profil und damit zugleich dem Land eine Regierung zu geben. Für sie als Partei ist es allerdings genau so wichtig, dass der seit einiger Zeit andauernde Abstieg in der Wählergunst endlich gestoppt wird. Auch das ist möglich.
Eine harte Probe für die Konzessionsbereitschaft der Frankophonen
Die erste Voraussetzung dazu ist, dass sich die Christlichsozialen Flanderns mit den sieben anderen Parteien, die bereit sind, über Di Rupo’s Note zu verhandeln, an einen Tisch setzen. Dabei dürfte es nicht allzu schwer sein, den Frankophonen klarzumachen, dass diese einer Staatsreform zustimmen müssen, die zwar nicht so weit geht, wie es die N-VA verlangt, aber weit genug, damit die große Mehrheit der Flamen damit leben kann.
Im Klartext bedeutet dies, dass die französischsprachigen Parteien in Sachen Kompetenzerweiterung und der finanziellen Eigenverantwortung der Teilstaaten noch einen Schritt weiter gehen müssen, als es die Di-Rupo-Note vorsieht. Nur dann ist eine Staatsreform möglich, die für Flandern eine echte und seit vielen Jahren geforderte Errungenschaft bedeutet, die die N-VA nicht so leicht abschießen kann.
Allein dieses Szenario bietet noch eine Chance, dass Belgien in absehbarer Zeit eine Regierung bekommt und dass endlich die Reformen durchgeführt werden, ohne die das Land mittel- bis langfristig nicht funktionieren kann. Dies gilt auch für den Fall, dass Di Rupos Auftrag mangels Einigung mit der CD&V scheitern sollte. Dann wird es wohl demnächst einen neuen Versuch geben müssen, doch die Voraussetzungen zum Erfolg bleiben unverändert.
Dann kann man höchstens bedauern, dass einmal mehr kostbare Zeit verloren ging, weil für gewisse Parteien ihre wahltaktischen Interessen wichtiger sind als das Allgemeinwohl.
Danke für diese deutlichen Worte in dieser verzweifelten Lage...