Die Meldungen gleichen sich, und doch ist es immer wieder eine Steigerung. Wieder herrscht Krisenstimmung in der Brüsseler Rue de la Loi, wieder steht die Frage im Raum, ob dieses Land noch eine Zukunft hat. Nach dem Nein! von Bart De Wever und seiner N-VA zur Kompromissnote von Regierungsbildner Elio Di Rupo wird es langsam eng in der innenpolitischen Sackgasse, in der das Land seit mehr als einem Jahr steckt. Doch steht zu befürchten, dass die politische Klasse des Landes immer noch nicht gewillt ist, endlich aus der Abwärtsspirale auszubrechen.
"Denn sie wissen nicht, was sie tun". Bevor man diese Aussage auf die politische Klasse in Brüssel anwenden konnte, war das schon der deutsche Titel eines berühmten Films mit James Dean. Darin spielt der so genannte "Chicken Run" eine tragende dramaturgische Rolle.
Der "Chicken Run", das ist eine Mutprobe, bei der zwei Leute in einem Auto mit Vollgas auf einen Abgrund zurasen. Derjenige, der als erster aus dem Wagen herausspringt, ist der Hasenfuß, hat verloren. "Denn sie wissen nicht, was sie tun": Manche Bilder passen einfach zu gut.
Eng umschlungen schaukeln sich Flamen und Frankophone immer tiefer in den gemeinschaftspolitischen Morast. "Denn sie wissen nicht was sie tun": Der "point of no-return" ist eigentlich schon überschritten. Das Verhältnis wird nie wieder dasselbe sein, das Vertrauen ist dauerhaft beschädigt.
Dafür allein Bart De Wever verantwortlich zu machen, wäre zu kurz gegriffen. Er ist nur einer der vielleicht sichtbarsten Protagonisten in einem Schmierentheater, bei dem jeder am Drehbuch mitschreibt.
Subtile Falle?
Es ist keine Unterstellung, wenn man hinter der Di-Rupo-Note mehr als nur einen bloßen Kompromiss-Vorschlag sieht. Es war eine durchaus subtile Falle, zumindest liegt der Verdacht nahe. Eigentlicher Adressat war nämlich weniger Bart De Wever, sondern vielmehr Wouter Beke, der CD&V-Chef. Dem dürfte nicht entgangen sein, dass erhebliche Teile des Entwurfs inspiriert waren von der Arbeit von Di Rupos Vorgänger, also eben von jenem Wouter Beke. Die Absicht war klar: Man wollte der CD&V Honig um den Bart schmieren, um sie dazu zu bringen, aus dem Windschatten der N-VA zu treten und die Nationalisten dann zu isolieren.
Ob nun Verschwörungstheorie oder nicht, Fakt ist, dass man auch über ein Jahr nach der Wahl immer noch nicht über das Stadium der politischen Strategie-Spielchen hinausgewachsen ist. Dabei schert man sich einen feuchten Kehricht darum, dass die Außenwirkung mit jedem Tag desaströser wird.
Ob nun versteckte Offerte an die CD&V oder nicht: Elio Di Rupo hatte einen durchaus ehrenhaften Kompromiss-Vorschlag hinterlegt. Ehrenhaft allein deswegen, weil der Vorschlag sehr weit ging, viel weiter als man es dem sonst so vorsichtigen PS-Chef zugetraut hätte, Lichtjahre von der ursprünglichen, starren Haltung der Frankophonen entfernt, als man die Wünsche der Flamen mit einem süffisanten "Wir sind nicht fragende Partei" vom Tisch fegte.
Di Rupo hatte sich weit aus dem Fenster gelehnt, war ein erhebliches Risiko eingegangen, hatte sogar – was ihn als PS-Chef schmerzen musste - eine seiner Zielgruppen, nämlich die Gewerkschaften en bloc gegen sich aufgebracht. Das war riskant - und das ehrte ihn.
Anti-Politik
Bart De Wever hat diesen Kontext offensichtlich ausgeblendet. Den mutigen Vorstoß des Regierungsbildners, die 390 Tage Stillstand, die Unruhe an den internationalen Finanzmärkten: All das scheint in der egozentrischen Welt der Nationalisten mit einem Mal keine Rolle mehr zu spielen. De Wever betrachtet seine Haltung – sein Neen zu Di Rupo - als ehrlich und konsequent.
Nun, man könnte auch sagen: Das ist bloße Anti-Politik. Wer nach einem Jahr Dauerkrise, angesichts der mit jedem Tag wachsenden Notwendigkeit, strukturelle Reformen durchzuführen und den Haushalt zu sanieren, immer noch dasselbe erzählt wie am Tag nach der Wahl, ungeachtet der Bewegung auf der Gegenseite, der ist nicht mehr konsequent, der ist starrsinnig, kompromissunfähig, in gewisser Weise undemokratisch. Bis zum Exzess an seinen Grundsätzen festhalten, das kann sich nur eine ewige Oppositionspartei leisten. Niemand kann erwarten, dass ein Koalitionsabkommen eine Photokopie seines eigenen Parteiprogramms ist.
Ähnlich unbeweglich zeigt sich die CD&V. Was am Tag nach der Wahl nachvollziehbar war, kann doch nicht bis in alle Ewigkeit gelten. Dass die CD&V zunächst der N-VA das Feld überlassen wollte - zwischen Klammern: damit sich die Nationalisten auch mal auf die Nase legen - das war seinerzeit vollkommen nachvollziehbar. Wer aber ein Jahr und unzählige Krisenmomente später immer noch erzählt, in erster Linie die Wahlsieger hätten ein Mandat bekommen, um die neue Regierung zu bilden, der macht sich lächerlich.
Als hätten nur die Wahlsieger ein Mandat bekommen! Was ist denn mit den CD&V-Wählern? Haben die die Christdemokraten also ausschließlich dafür gewählt, dass sie dem Kaiser von Flandern die Krone aufsetzen? Eins sollten sie wissen: De Wever, dessen Nein! tatsächlich an den gesenkten Daumen Neros erinnerte, wird es ihnen nicht danken.
In anderen Teichen fischen
Im Gegenteil: Der begnadete Stratege Bart De Wever hat seinen Auftritt konsequent genutzt, um ganz offen im Teich der anderen zu fischen. Nicht umsonst hat er seine Kritik-Tirade mit seinen Einwänden in Sachen Haushaltssanierung und Strukturreformen begonnen. Die erste Viertelstunde der De Wever-Standpauke hätte eigentlich zur liberalen Open-VLD gepasst. Der N-VA-Chef wollte augenscheinlich über sein Nationalisten-Jackett den Mantel des Fürsprechers des Mittelstandes stülpen, des oft bemühten "hart arbeitenden Flamen".
Ob De Wever nun von vornherein gar nicht auf ein Abkommen bedacht war oder nicht, spielt gar keine Rolle. Hier geht es einzig um die langfristige Verankerung der einstigen Fünf-Prozent-Partei in Flandern. Die föderale Ebene ist für De Wever allenfalls Mittel zum Zweck, Brüssel ist die Bühne für ein Programm, das einzig für das flämische Publikum bestimmt ist. Und solange das flämische Publikum mehrheitlich klatscht, bleibt man eins zu eins auf Kurs.
Dass dem Publikum die Figur des standhaften De Wever gefällt, hat man sich selbst zuzuschreiben. De Wever ist – davon abgesehen, dass er ein brillanter Kommunikator mit, zugegeben, populistischen Zügen ist - im Endeffekt der Frankenstein, den Flamen und Frankophone sich selbst erschaffen haben, indem sie entscheidende Probleme viel zu lange auf die lange Bank geschoben beziehungsweise die Wünsche der anderen nicht ernst genommen haben.
Die Höhe der Hecke
Die einzige Möglichkeit, die inzestuöse Spirale zu durchbrechen, ist – so zynisch das klingen mag - eine Katastrophe, die von außen hereinbräche. Konkret: An dem Tag, an dem Belgien ins Fadenkreuz der internationalen Finanzmärkte gerät, würde jedem – zumindest steht das zu hoffen - mit einem Mal klar, dass es keinen Sinn macht, sich über die Höhe der Hecke zu streiten, wenn der Garten unter Wasser steht.
Bild: epa
Wer glaubt, dass BDW der Einzige sei, der DiRupos Vorschläge abschiessen möchte, der irrt sich! Die anderen (besonders MR und Open-VLD) haben sich nur listiger verhalten, als BDW. Wer ehrlicher war, könnte man in den nächsten Wochen sehen, wenn es DiRupo (und dem König?) gelingt, die cd&v weichzuklopfen und die - voraussichtlich wieder endlosen Verhandlungen der traditionellen Parteien mit ihren politischen Stratego-Spielchen aufs Neue beginnen. Die Liberalen haben total andere Vorstellungen bei den sozialen und wirtschatlichen Punkten, im Vergleich zu den Pe-eSsen und den Grünen; Maingain/FdF (und MR?) noch zusätzlich bei den konstitutionellen Punkten, die Grünen bei den ökologischen, PS und CDH (und die Grünen?) beim Sozialen und beim Arbeitsmarkt, en nu maar op...
Wie kann "Sinn" überhaupt "gemacht werden". Das ist und bleibt mir schleierhaft.