Am kommenden Pfingstmontag , am 13. Juni 2011, ist es genau ein Jahr her, dass Belgien wählte. Seither laufen die Versuche zur Bildung einer neuen Regierung. Bisher leider vergebens, und, wie es aussieht, könnte es noch eine Weile dauern, ehe in Brüssel wieder eine vollwertige Regierung das Heft in die Hand nehmen kann.
An eine schnelle Lösung scheint Di Rupo selbst nicht zu glauben. Seinerzeit bezeichnete er den Versuch, die Wahlsieger PS und N-VA auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, als ein Ding der Unmöglichkeit, als "mission impossible". Damit waren hauptsächlich die Gegensätze in den gemeinschaftspolitischen Fragen, wie BHV, Staatsreform und finanzielle Eigenverantwortung der Teilstaaten gemeint. Inzwischen zeigt sich jedoch, dass ein Kompromiss in den sozialwirtschaftlichen Fragen sich als genauso schwierig erweisen könnte.
Fingerzeig der EU spaltet zusätzlich
Den Beweis dafür lieferte diese Woche eine Empfehlung der EU-Kommission, die bei der Haushaltsbewertung Belgiens zu der Einsicht gelangte, dass unser Land unbedingt darauf achten muss, nicht länger über seine Verhältnisse zu leben. Man denke nur an Griechenland, Portugal oder Spanien. Wenn uns eine ähnliche Rosskur, wie die, die dort angewendet wird, erspart bleiben soll, dann müssen, laut EU-Empfehlung, unser Pensionssystem reformiert und die Lohn-Indexbindung gründlich überdacht werden. Konkret gemeint ist damit, dass mehr Belgier einen Job bekommen und länger als bisher arbeiten müssten, und dass etwas geschieht, um die Bruttolöhne unter Kontrolle zu halten, damit Belgiens Betriebe konkurrenzfähig bleiben.
Die Reaktion aus dem politischen Brüssel kam postwendend, und sie machte eines deutlich : Während die flämischen Parteien mehrheitlich den europäischen Vorschlägen zustimmten, war auf frankophoner Seite, mit Ausnahme der liberalen MR, sogleich die Rede vom sozialen Abbruch, den man nie und nimmer betreiben werde. Fazit : Di Rupo ist wirklich nicht zu beneiden, denn neben dem institutionellen Graben gibt es auch einen sozialwirtschaftlichen Bruch zwischen Links und Rechts, und auch hier verläuft die Grenze mehr oder weniger zwischen dem konservativen Flandern und der stark linkslastigen Wallonie.
Neuwahlen sind keine Lösung
Ob Di Rupo es schaffen wird, ein Abkommen für eine neue Regierung zu erzielen, ist damit fraglicher geworden als je zuvor. Vielleicht wird er ja nach dem Sommer das Handtuch werfen und damit den Weg für Neuwahlen frei machen. Neuwahlen, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch keine Lösung bringen werden. Es wäre also auf jeden Fall besser, ohne sie zu einer Einigung zu gelangen. Aber wie ? Das ist die Frage.
Vielleicht sollte man sich auf frankophoner Seite, beziehungsweise bei den dortigen linksorientierten Parteien, PS, CdH und Ecolo, einmal vor Augen halten, dass die EU nach der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung bereits die zweite internationale Einrichtung ist, die Belgien zu verstärkten Sparanstrengungen aufruft. Übrigens bedeutet der Appell, die Lohnindexierung zu überdenken, nicht unbedingt deren ersatzlose Abschaffung.
Kaufkraft kann auch ohne Lohn-Indexbindung geschützt werden.
Es geht lediglich darum, ein System zu finden, das die Kaufkraft der Bevölkerung sichert, ohne der Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe zu schaden. Schließlich gibt es bei unseren Nachbarn auch keine Bindung der Löhne an den Index der Lebenshaltungskosten , und trotzdem geht es ihnen in sozialer Hinsicht nicht schlechter als uns. Mit etwas Kreativität müsste doch eine Lösung zu finden sein, die die Abgaben, die auf die Löhne sowohl von den Arbeitnehmern als auch von den Arbeitgebern zu zahlen sind, verringert und damit die Nettolöhne anhebt.
Das würde zwar auch die staatlichen Einnahmen reduzieren, aber andere Länder haben bekanntlich vor Belgien lernen müssen, mit weniger auszukommen.
Ohne gewisse Abstriche ist die Soziale Sicherheit nicht zu retten
Zwangsläufig würde das auch einige soziale Abstriche mit sich bringen, doch müssen wir uns wohl oder übel darauf einstellen, dass unsere Sozialversicherung auf Dauer nicht mehr zu bezahlen ist, wenn wir nicht die eine oder andere sogenannte soziale Errungenschaft in Frage stellen. Ohne diese Bereitschaft wird Belgien das gesteckte Sparziel eines ausgeglichenen Haushalts bis 2015 auf keinen Fall erreichen. Und dann würden auf den Finanzmärkten die belgischen Staatsanleihen zu Ramschpapieren, mit der Folge, dass unser Land für künftige Anleihen deutlich höhere Zinsen zahlen müsste. Griechenland lässt grüßen. Bleibt nur zu hoffen, dass die sozialen Reformverweigerer dies rechtzeitig einsehen. Di Rupos Aufgabe bei der Regierungsbildung würde damit um eine schwere Hypothek leichter werden.