Eine Aussage von Justizminister Stefaan De Clerck stößt bei frankophonen Politikern auf Protest. In einem längeren Studiogespräch der RTBF wurde er heute zu dem Beschluss im Senat befragt, eine Diskussion über Verurteilungen während der Besatzung 1940-45 auf Initiative des Vlaams Belang zuzulassen.
De Clerck sagte, man müsse wie Erwachsene jedes Thema aufgreifen und sich vielleicht auch fähig zum Vergessen zeigen. Auf der anderen Seite gebe es aber auch die internationale Tendenz zur Nicht-Verjährbarkeit bestimmter Straftaten.
Eine solche Aussage zeuge nicht von einer erwachsenen Haltung, kritisierte die sozialistische Gewerkschaft bei der Armee. Die Vorsitzende des Justizausschusses, Christine Defraigne (MR), sagte, damit nähere sich De Clerck der Gefahr, die Geschichte umzuschreiben.
Hintergrundinformationen
Bis zum Ende des 2. Weltkriegs und darüber hinaus gab es in vielen belgischen Familien heftigen Streit darüber, ob der deutsche Nationalsozialismus abgelehnt werden musste oder ob er nicht doch auch Anerkennung verdient hätte. Väter zerwarfen sich darüber mit ihren Söhnen, Ehen zerbrachen, Geschwister gingen getrennte Wege.
Und auch zwischen Flamen und Wallonen taten sich Gräben auf, die bis heute nicht geschlossen wurden - wie in diesen Tagen offensichtlich wird. Während vor allem der frankophone Landesteil vom heroischen Widerstand gegen die deutschen Besatzer erzählt, wird den Flamen, wenn auch allzu pauschal, die Kollaboration mit den Deutschen vorgehalten.
Kollaborateure nannte man in den besetzten Gebieten die Zuarbeiter Hitlers und seines Regimes. Tatsächlich sind viele Flamen aufgrund von Kollaboration strafrechtlich verurteilt worden. In den Jahrzehnten danach forderte eine große rechtsextreme Szene, allen voran die Partei Vlaams Belang, immer wieder mehr oder weniger lautstark deren Freilassung. Gesetzesvorschläge für eine Amnestie blieben jedoch immer in den Schubladen liegen.
Bis Justizminister De Clerck letzte Woche Gesprächsbereitschaft signalisierte. Der Amnestie-Entwurf des Vlaams Belang darf auf die Tagesordnung des Parlaments gesetzt werden. Zur Begründung sagte der flämische Christdemokrat im rtbf-Interview: "Die Zeit für einen erwachsenen Umgang mit der Vergangenheit ist gekommen. Vielleicht müssen wir vergessen können."
Die Reaktionen auf frankophoner Seite ließen nicht lange auf sich warten. Wer die Kollaboration vergesse, schreibt die Geschichte um, ließ die liberale MR verlauten. Der PS-Fraktionsleiter im Senat, Mahoux, nennt die Äußerungen des Justizministers skandalös. Und auch cdH und Ecolo reagierten empört. Die meisten flämischen Parteien hingegen zeigen sich offen für eine Diskussion. Nur Groen! ist dagegen.
Millionen Europäer standen im 2. Weltkrieg und teils schon zuvor auf Seiten des Nationalsozialismus. Eher verschämt wurde bisher darüber gesprochen. Jetzt, 66 Jahre nach Kriegsende, scheint es nicht mehr länger anstößig, über eine Amnestie von NS-Kollaborateuren zu debattieren. Mit welchem Ausgang, ist ungewiss.
belga/rtbf/fs/km - Bild: rtbf