Die Ermittlungen der Mailänder Staatsanwaltschaft basieren auf Recherchen von Ezio Gavazzeni, einem italienischen Schriftsteller. Der hatte nach eigener Aussage bereits in den 1990er-Jahren von den sogenannten "Menschen-Safaris" reicher Touristen gehört, zu denen vor allem italienische Staatsbürger gehört haben sollen. Aber eben nicht nur. Auch Deutsche, Franzosen, Belgier und Staatsangehörige anderer westlicher Länder sollen mit von der Partie gewesen sein.
Diese wohlhabenden Kriegstouristen sollen, so Gerüchte und von Gavazzeni zusammengetragene Aussagen von Zeugen, als Gäste der Armee der bosnischen Serben von den umliegenden Hügeln aus auf Zivilisten im von den Serben belagerten Sarajevo geschossen haben- gegen ein fürstliches Entgelt und getarnt als Jagdausflüge von Triest aus. Zwischen 80.000 und 100.000 Euro sollen sie jeweils für so ein Scharfschützen-Wochenende bezahlt haben. Mit Aufpreis, wenn sie Kinder abknallen wollten.
Gavazzeni selbst nennt in einem Interview mit einer deutschen Zeitung die Zahl von 200 Wochenenden, an denen solche organisierten Menschenjagden zwischen 1992 und 1996 stattgefunden haben sollen. Wie viele Menschen dabei möglicherweise ermordet wurden, ist schwierig abzuschätzen, gerade angesichts der hunderttausenden Menschen, die während der Balkankriege insgesamt ums Leben kamen.
Eine zweifellos furchtbare Geschichte. Wenn sie stimmt – und das ist die große Frage, wie auch Christine Van den Wyngaert im Interview mit der VRT unterstreicht. Sie ist ehemalige Richterin am Internationalen Strafgerichtshofs und arbeitete sieben Jahre lang für den Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien, der die schweren Verbrechen der Balkankriege aufarbeiten sollte. Trotz dieser langen Beschäftigung mit der Materie ist diese spezifische Geschichte für sie neu.
Damit will sie aber nicht explizit sagen, dass die Geschichte nicht stimmen kann. Es sei aber nun einmal so, dass Gerüchte erst mal Gerüchte blieben, bis sie bewiesen werden könnten. Und in diesem Sinne müsse man nun abwarten, was die Mailänder Ermittlungen ergeben würden.
Die Jugoslawien-Expertin Heleen Touquet weist in diesem Zusammenhang jedenfalls ausdrücklich darauf hin, dass es seit den 1990er-Jahren durchaus mehrfach Hinweise und Zeugenaussagen gegeben habe über die angeblichen Menschenjagden. Die konkreten Details, die in den italienischen Medien berichtet würden, legten auch nahe, dass durchaus mehr bekannt gewesen sei als bisher angenommen, zum Beispiel über die genommenen Routen, die Preise für das Morden und so weiter.
Falls sich die Geschichte bewahrheiten sollte, wird sich auch noch eine andere Frage stellen: Welche Folgen könnten etwa belgischen Teilnehmern dieser angeblichen Sarajevo-Safaris drohen? Laut Gavazzeni sollen viele der Täter noch am Leben sein. Eine schwierige Frage, auch weil seitdem drei Jahrzehnte vergangen sind.
Wenn in Italien tatsächlich Beweise gegen oder Hinweise auf Belgier ans Licht kommen sollten, dann könne die föderale Staatsanwaltschaft auch aktiv werden, so Van den Wyngaert, und eigene Ermittlungen anstrengen. Die Betonung liegt auf "könne", dazu verpflichtet sei die Staatsanwaltschaft nämlich nicht. Aber wenn gegen Belgier ermittelt werden solle, dann müsse das die belgische Justiz übernehmen. Denn den Internationalen Strafgerichtshof gebe es ja erst seit 2002, damit könne so ein Fall dort auch nicht verhandelt werden.
Falls in Belgien ermittelt werden sollte, dann nicht wegen Mordes. Dafür liegen die angeblichen Taten schon zu lange zurück, sie wären verjährt. Auch vermutlich nicht wegen Kriegsverbrechen, denn die Täter waren selbst auch Zivilisten. Aber Ermittlungen wegen möglicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit seien durchaus denkbar, so Van den Wyngaert.
Boris Schmidt