Belgien hat bekanntermaßen eine blühende Pharmaindustrie. Man sollte also doch eigentlich meinen, dass es hierzulande so etwas wie Lieferengpässe bei Medikamenten nicht geben sollte. Aber das Gegenteil ist der Fall, wie Olivier Delaere gegenüber der RTBF ausführt. Delaere ist der Geschäftsführer des Medikamentengroßhändlers Febelco.
In Belgien gebe es aktuell offizielle Lieferengpässe für etwa 650 verschiedene Medikamente, so Delaere. Plus 350 weitere Medikamente, von denen die Pharmaindustrie den Großhändlern zu wenig zur Verfügung stellt, um die Nachfrage in den Apotheken zu befriedigen und ausreichende Pufferkapazitäten aufzubauen. Macht zusammen also knapp tausend Arzneimittel, die in Belgien aktuell nicht oder nur mit Schwierigkeiten zu bekommen sind – eine erschreckend hohe Zahl.
Die Lieferengpässe betreffen dabei auch nicht nur bestimmte Medikamentengruppen. Von Schmerzmitteln über entzündungshemmende Mittel bis hin zu Anti-Asthma-Mitteln falle da alles Mögliche drunter. Das sei also wirklich ein breites Problem.
Und die fehlenden Medikamente sind nicht nur aus gesundheitlichen Gründen eine Herausforderung. Die Suche nach Ersatzmedikamenten verschlingt enorm viele Ressourcen und Zeit. Von den etwa eine Million Interaktionen pro Jahr zwischen dem Febelco-Kundendienst und den Apotheken, gehe es bei 700.000 nur um das Organisieren von Ersatz für nicht erhältliche Medikamente.
Im Schnitt verbringe ein Apotheker fast einen ganzen Tag pro Woche nur damit, nach Lösungen zu suchen mit Industrie und Großhändlern, um Patienten trotzdem helfen zu können. Eine enorme zusätzliche Belastung also.
Aber zurück zur ursprünglichen Frage: Wie kann das sein in einem Land mit einer so großen Pharmaindustrie? Dafür gibt es verschiedene Gründe, führt der Febelco-Geschäftsführer aus.
Zum einen versuche die Pharmaindustrie, in der Produktion Kosten zu sparen, wo es nur gehe. Das bedeute zum Beispiel, dass die Firmen Kapazitäten abgebaut hätten, dass sie Fabriken in günstigere, aber weiter entferntere Länder verlegt hätten, wie zum Beispiel Indien, und dass sie nur noch "just in time" produzierten, um Lagerkosten zu sparen. Die Produktions- und Lieferketten seien also länger und anfälliger. Und da könnten dann auch noch Probleme bei der Lieferung benötigter Rohstoffe dazukommen.
Ein zweites Problem sei aber vor allem die Kontingentierung von Medikamenten durch die Pharmabetriebe. Sprich, dass die Firmen Ländern aus rein wirtschaftlichen Gründen nur bestimmte Mengen an Arzneimitteln zur Verfügung stellten. Das habe auch der Europäische Rechnungshof deutlich angeprangert, unterstreicht Delaere.
Es gebe zwar Regeln und Gesetze, die Pharmaindustrie könne nicht einfach machen, was sie wolle. Aber zwischen den einzelnen Ländern seien die Preisunterschiede so groß, dass die Firmen mit Quoten operierten, um ihre Märkte abzusichern. Das sei ein wirklich großes Problem, vor allem in Belgien. Und ein Problem, das immer schlimmer werde. Denn Belgien habe zwar in der Tat eine substanzielle Pharmaindustrie, der größte Teil ihrer Produktion sei aber für den Export in andere Länder bestimmt.
Das meistbietende Land, beziehungsweise das Land, in dem sich ein Medikament am teuersten verkaufen lasse, bekomme normalerweise einfach mehr von einem bestimmten Medikament. Und die Lobby der Pharmaindustrie sei stark – das mache es natürlich schwierig, politisch effektiv gegen solche Praktiken vorzugehen.
Boris Schmidt