"Durchwachsen" oder auch "zwiegespalten": So fällt die Bilanz von Myriam Tonus zu 100 Tagen Leo XIV. aus. Mit diesem Urteil ist sie nicht allein. Schon andere vor ihr hätten die ersten Tage des neuen Papstes mit diesem Adjektiv bilanziert, sagt die Lütticher Theologin im Gespräch mit der RTBF.
Und Tonus, die selbst auch als Journalistin beim franko-belgischen Kirchensender RFC Radio arbeitet, schiebt die Erklärung für ihre Einschätzung gleich hinterher. "Für die gesamte Kirche", sagt sie, "hat sich seit der Amtsübernahme nichts Großartiges getan. Und ich wiederhole gerne das, was ich schon am Tag seiner Wahl gesagt habe: Ich warte auf seine ersten Schriften."
Denn das ist eine Besonderheit von Leo XIV: Bislang gibt es von ihm noch keine schriftlichen Werke. Vor seiner Wahl zum Papst arbeitete der US-Amerikaner viele Jahre als Missionar in Peru. Theoretische Auseinandersetzungen mit Kirchenrecht oder aktuellen theologischen Fragen - das gehörte dort nicht zu seinem Alltag. Bei seinen Vorgänger-Päpsten war das anders. Da fiel die Einschätzung von persönlichen Standpunkten zu dem ein oder anderen Thema aufgrund von Schriftstücken viel einfacher.
Das Fehlen solcher Werke macht die Einschätzung von Leos eigenen Positionen also schwierig. Um darüber mehr sagen zu können, warten Beobachter auf seine erste Enzyklika. So nennt man eine Schrift des Papstes, in der er seine Standpunkte darlegt. Eine Art Regierungsprogramm. So sieht das auch Tonus, die sagt: "Im Prinzip ist eine Enzyklika wirklich eine theologische Vision. Und es ist die theologische Vision eines Papstes, die sein Handeln innerhalb der Kirche orientiert."
Erste Anzeichen für die Richtung, die Leo XIV. einschlagen könnte, gibt es trotzdem schon. So hat er sich jüngst auf dem Weltjugendtag als offen für die Belange der jungen Menschen gezeigt. Die LGBTQ+ Gemeinschaft verurteilt er nicht grundsätzlich, will aber auch eine Re-Christianisierung der westlichen Gesellschaft. Verschiedene Zeichen der katholischen Tradition, auf die sein Vorgänger Franziskus bewusst verzichtet hatte, greift Leo XIV. wieder auf.
"Alle Personen, die sich offen als Traditionalisten bezeichnen", sagt dazu Myriam Tonus, "aber auch Personen, von denen ich dachte, dass sie mit den Fortschritten der Kirche gut zurechtgekommen wären trotz der Sehnsucht nach mehr Tradition, all diese Personen sind sehr zufrieden."
Gleichzeit fehlten bei Leo XIV. bislang Aktionen, um reformfreudige Katholiken wirklich zu begeistern. Beim für Belgiens Katholiken so wichtigen Thema des sexuellen Missbrauchs würden bislang Aktionen fehlen, was Nicht-Regierungsorganisationen und Opfer-Verbände auch schon beklagt hätten, sagt Tonus.
Trotzdem sieht Tonus in Leo XIV. auch keinen klaren Traditionalisten. Sie bleibt auch am Ende ihrer Bilanz bei ihrem noch zwiespältigen Urteil zum neuen Papst, wenn sie sagt: "Er hat viele gute Absichten. Das ist schon mal gut. Aber Absichten sind für mich noch keine Taten."
Kay Wagner