Wenn das Recht verbogen wird, dann darf nicht applaudieren, nur weil gerade im Augenblick die Richtung stimmt. Aus den laufenden sind dauerlaufende Angelegenheiten, aus einer Ausnahme ein Normalfall geworden.
Der eine mag es Pragmatismus nennen, im Fahrwasser von Kammerpräsident André Flahaut, der die Gegenfrage stellte: "Wie würden wird denn reagieren, wenn die Regierung nichts täte?" Stimmt! Beim Haushalt und auch bei der Ernennung des neuen Nationalbankchefs etwa agierte man unter dem Druck der Dringlichkeit. Im Hinblick auf die Beteiligung am Krieg gegen Gaddafi sicherte man sich durch ein Votum des Parlaments ab, das eigentlich nicht nötig gewesen wäre.
Dennoch, bei allen guten Gründen: So geht es nicht!
Zwar kann man einwenden, dass das Konzept einer geschäftsführenden Regierung nirgendwo rechtlich verankert ist. Man vergisst da aber Faktoren wie das Gewohnheitsrecht oder schlicht und einfach: den gesunden Menschenverstand. Aller, selbst noch so wohl gemeinter Pragmatismus darf in jedem Fall nicht den Anstrich von Rechtsbeugung bekommen.
Wenn plötzlich doch möglich ist, was bis vorhin noch ausgeschlossen schien, welches Bild wird denn da vermittelt? Das Bild eines Rechtsstaates, in dem die Uhren, je nach Lage, auch schonmal anders gehen können, nach dem Motto: Wahrheit ist relativ.
Besonders problematisch ist die Beteiligung Belgiens am Militäreinsatz gegen Libyen. Hier geht es nicht um Bemerkungen moralischer Art, sondern um die Form. Placet des Parlaments hin oder her, hier geht die Regierung zu weit. Es stellt sich nämlich, wie so mancher Spielverderber schon unkte, auch die Frage der politischen Verantwortung, bzw. wer die notfalls trägt. Wer steht denn für einen möglichen Patzer gleich welcher Art gerade? Ein Minister, der schon einem geschäftsführenden Kabinett angehört, kann schließlich nicht nochmal zurücktreten.
Nun wird niemand der Regierung allen Ernstes unterstellen, sie setze das Leben unserer Soldaten aufs Spiel, um politische Spielchen auszutragen. Dennoch wir man das Gefühl nicht los, dass die "laufenden Angelegenheiten" längst auch Teil einer perfiden Strategie geworden sind. In dem bizarren Ehekrach zwischen CD&V und N-VA geht es ganz deutlich um genau diese Frage.
Erster Akt: N-VA-Chef Bart De Wever übt im VRT-Fernsehen harsche Kritik an der geschäftsführenden Regierung, die überschreite ganz klar ihre Befugnisse, das habe längst nichts mehr mit "laufenden Angelegenheiten" zu tun.
Zweiter Akt: Tags drauf veröffentlichen alle CD&V-Föderalminister einen offenen Brief, in dem sie De Wever sinngemäß antworten: "Ihr habt die Nase voll von einer 'geschäftsführenden Regierung'? Wir auch! Wenn Ihr, N-VA, das ändern wollt, dann bildet doch eine neue Regierung!".
Der amtierende Premier Yves Leterme, den man inzwischen ob seiner offensichtlichen Wiedergeburt auch den belgischen "Lazarus" nennen könnte, legte dann noch einen drauf: "De Wever ist gescheitert, 300 Tage nach der Wahl hat er sein Traumergebnis noch nicht ansatzweise in politische Erfolge ummünzen können."
Mit dieser Auseinandersetzung erreicht der seit längerer Zeit vor allem in Flandern vorherrschende Hang zur Karikierung in der politischen Debatte seinen vorläufigen Höhepunkt.
Denn: Beide haben Recht, sitzen aber im Glashaus. Die CD&V kann schwerlich den flämischen Nationalisten vorwerfen, bislang kein Abkommen zustande gebracht zu haben, wenn auch die Christdemokraten immer mal wieder mit mit allen vier Hufen gebremst haben. Die N-VA kann ihrerseits nicht die faktische Ausweitung des Konzepts der "laufenden Geschäfte" anprangern, wenn sie zuletzt doch den Militäreinsatz gegen Libyen im Parlament noch mitgetragen hat.
Es sei denn, die N-VA hat inzwischen einen üblen Verdacht. Nämlich, dass man sie hinters Licht führt. Spätestens, als Didier Reynders mal eben so bemerkte, dass es seinetwegen noch bis 2014 so weiter gehen könne, ist den Nationalisten womöglich aufgegangen, dass genau das inzwischen längst der Plan ist.
Fakt ist: Man könnte meinen, es geht auch ohne reguläre Regierung, wobei jeder weiß, dass das nicht stimmt. Fakt ist auch: damit bricht der N-VA die Drohkulisse weg. Es ist keine Unterstellung, wenn man davon ausgeht, dass die N-VA im Grunde darauf spekuliert hat, dass die Lage es irgendwann einfach erforderlich macht, eine Regierung zu bilden, dass man irgendwann aufgrund äußeren Drucks dazu verdammt gewesen wäre, sich zusammenzuraufen.
Zur Unterstellung wird es, wenn man es wie Yves Leterme formuliert, der der N-VA offen vorwarf, eine Strategie der "Verrottung" betrieben zu haben. Will heißen: Man sorgt dafür, dass das nackte Chaos ausbricht, um dann die anderen zu einem Abkommen zu nötigen, zwischen Klammern: einem Abkommen, das dann ganz im Sinne der N-VA gewesen wäre.
Wie schon gesagt: Die laufenden Angelegenheiten scheinen inzwischen fester Bestandteil jener politischen Spielchen geworden zu sein, die längst jeglichen konstruktiven politischen Dialog unmöglich machen.
Dass man dafür in der Zwischenzeit Gewohnheitsrechte verbiegt, gefährliche Präzedenzfälle schafft, und dabei selbst institutionelle Grundpfeiler entweiht, wird offensichtlich ohne mit der Wimper zu zucken hingenommen. Wer einer geschäftsführenden Regierung auf der Grundlage von fadenscheinigen Begründungen so viel Macht gibt, der sollte sich fragen, wie es denn wäre, wenn man nicht selbst, sondern der politische Todfeind in diesem Kabinett säße - und wenn diese scheinbar ewig-währende geschäftsführende Regierung dann auf der Grundlage des jetzt mit jedem Tag neu gefassten Gewohnheitsrechtes plötzlich Dinge anstoßen würde, die einem eben nicht gefallen.
Den Zauberlehrlingen in der Rue de la Loi sei einmal mehr gesagt: Mit institutionellen Grundpfeilern spielt man nicht!
Ich muss Herrn Pint einmal mein Kompliment aussprechen, trifft mit seinen Kommentaren stets unverblümt ins Schwarze. Ich wünschte, es gäbe mehr Journalisten seines Schlags!
Zum obigen Text: Als Nicht-Anhänger vom dicken Bart find ich es ja eher belustigend, welche Methoden angewandt werden, um die Waffen aus den Händen der N-VA zu schlagen. Hut ab vor der "geschäftsführenden Regierung". Äußerst raffiniert. Keine Macht dem Nationalismus...