Es ist ein Rekord im negativen Sinn. 2023 hat Belgien die Marke von mehr als einer halben Million Langzeitkranken überschritten. Der vorläufige Höhepunkt einer bereits seit Jahren vorhandenen Tendenz von immer mehr Menschen, die aus Krankheitsgründen mindestens ein Jahr lang nicht arbeiten können.
Neun Milliarden Euro pro Jahr
Mindestens genauso schockierend, wenn nicht sogar schockierender ist aber ein anderer Befund – nämlich die Zahl der Langzeitkranken, die als dauerhaft arbeitsunfähig eingestuft sind. Das sind besagte 300.000 aus den Zeitungsüberschriften. Das bedeutet nämlich, dass mehr als jeder zweite Langzeitkranke in Belgien, circa 55 Prozent der Betroffenen um genau zu sein, die Diagnose bekommen hat, nie wieder arbeiten zu können. Und die damit bis zur Rente ein Ersatzeinkommen beziehen. Kosten für den Staat: etwa neun Milliarden Euro pro Jahr. Tendenz natürlich ebenfalls steigend.
Es überrascht also nicht, dass die neue Föderalregierung sich auf die Fahnen – beziehungsweise ins Regierungsabkommen – geschrieben hat, die Zahl der arbeitsunfähigen Langzeitkranken zu reduzieren. Unter anderem bedeutet das: mehr Kontrollen.
Und der sozialistische Minister für Volksgesundheit und Soziale Angelegenheiten, Frank Vandenbroucke, lässt auch keinen Zweifel daran, wie er das Problem von so vielen dauerhaft als arbeitsunfähig eingestuften Menschen sieht.
Chance auf Wiedereingliederung besteht
Das sei nicht hinnehmbar, so Vandenbroucke gegenüber der VRT. Nicht allein aus finanziellen Gründen, auch im Interesse der Betroffenen selbst. Da lasse man Menschen einfach in einer Ecke verkümmern, man lasse sie eigentlich schlicht und ergreifend im Stich.
Die Wissenschaft beziehungsweise die Medizin entwickele sich kontinuierlich weiter – und damit auch die verfügbaren Behandlungsmethoden. Das Gleiche gelte für den Arbeitsmarkt. In der Praxis bedeute das, dass sich die gesundheitlichen und beruflichen Aussichten ändern könnten.
Es bestehe also durchaus die Chance für manche Langzeitkranke, zumindest teilweise wieder zu arbeiten – oder im Idealfall sogar wieder eine normale Vollzeitstelle zu finden. Seit Juli letzten Jahres ist übrigens auch Schluss mit neuen dauerhaften Arbeitsunfähigkeitseinstufungen, wie der Gesundheitsminister erinnert.
Keine unbegrenzte Krankschreibung mehr
Die Diagnose der Arbeitsunfähigkeit wegen Krankheit werde auf ein oder zwei Jahre begrenzt. In Fällen, in denen mit langer Rekonvaleszenz zu rechnen sei vielleicht auch mal auf fünf Jahre. Aber eben sicher nicht mehr von vornherein unbegrenzt. Sprich: Im Zweifelsfall muss eine neue Untersuchung kommen, um die Arbeitsunfähigkeit zu verlängern, falls das notwendig sein sollte. Damit soll natürlich auch eventueller Missbrauch erschwert werden.
Aber für alle Deutlichkeit: Eine Bescheinigung dauerhafter Arbeitsunfähigkeit bis zur Rente bleibt auch mit der Reform des Systems möglich – nur dass sie eben auf wirklich schwerste Erkrankungen und Beeinträchtigungen begrenzt werden soll. So wie beispielsweise fortgeschrittener Krebs, Lähmungen und Demenz.
Dossiers nochmal überprüfen
Aber Vandenbroucke will auch, dass Likiv und Krankenkassen Dossiers noch einmal unter die Lupe nehmen, die aus der Zeit vor der Reform stammen. Man habe bereits damit begonnen, erklärt Paul Callewaert von der sozialistischen Krankenkasse Solidaris. Vor allem mit Dossiers, in denen eine positive Entwicklung des Gesundheitszustands der Patienten möglich sei. Und auch das Likiv unterzieht Fälle von bescheinigter dauerhafter Arbeitsunfähigkeit einer erneuten Prüfung.
Die Frage ist allerdings, wie effizient diese Kontrollen sein werden. Denn dazu liegen noch keine Zahlen von Krankenkassen oder Likiv vor. Rein oberflächlich betrachtet scheinen die etwa 1.800 Altdossiers, mit deren Prüfung das Likiv laut De Tijd und L'Echo seit letztem Herbst begonnen hat, jedenfalls wie ein Tropfen auf den heißen Stein der 300.000 attestiert dauerhaft arbeitsunfähigen Langzeitkranken.
Boris Schmidt