"Ich hörte Mama rufen und kam die Treppe runter. Und da stand dann im Wohnzimmer dieser fremde Mann". Viktor, der Sohn von Claudia Van Der Stichelen, erinnerte sich in der VRT nochmal an diesen unseligen 28. Oktober 2023, den Tag, an dem seine Mutter den Tod fand.
Es war eigentlich ein ganz gewöhnlicher Samstag im beschaulichen ostflämischen Örtchen Sint-Lievens-Houtem. Claudia Van Der Stichelen ist im Erdgeschoss ihres Hauses beschäftigt, Sohn Viktor sitzt in seinem Zimmer im ersten Stock. Irgendwann hört er Geschrei von unten. Er will nach dem Rechten sehen; dann geht alles aber sehr schnell. Er habe nur Augen für seine Mutter gehabt: "Geht es ihr gut? Wie kann ich die Rettungskräfte verständigen? Wie kann ich dafür sorgen, dass die Außenwelt alarmiert wird?" Da ging alles Schlag auf Schlag. Und deswegen habe er keine Zeit gehabt, den Mann wirklich zu mustern.
Vor der Haustüre, im Vorgarten, kommt es dann zum dramatischen Finale: Der Mann zieht eine Pistole. Claudia Van Der Stichelen wird regelrecht exekutiert. Sohn Viktor will noch einschreiten, er wird aber ebenfalls von drei Kugeln getroffen. Eine Woche lang muss er im Krankenhaus behandelt werden.
Den Täter kann Viktor nicht wirklich beschreiben, weil es so schnell ging und er auch unter Schock stand. "So geht es aber auch den anderen Zeugen", entschuldigt er sich. Insgesamt acht Personen haben den Mann anscheinend gesehen. Aber niemand konnte der Polizei eine wirklich präzise Beschreibung des Täters liefern.
Polizei tappt im Dunkeln
Die Fahndungsmeldung auf der Webseite der Föderalen Polizei spricht denn auch Bände: Gesucht wird "ein Mann zwischen 50 und 80 Jahren". Immerhin wird vermerkt, dass er mit einem auffällig prägnanten ostflämischen Akzent sprach, was den Verdächtigenkreis zumindest ein wenig eingrenzt. Aber nicht genug, um den etwa 1,80 Meter großen Mann im grauen Overall und in den grünen Stiefeln zu identifizieren. Es wurde zwar eine Reihe von Verdächtigen verhört, einige davon sogar zwischenzeitlich in Gewahrsam genommen. Bislang konnte aber niemand des Mordes überführt werden. Und die doch eher oberflächliche Täterbeschreibung scheint darauf hinzudeuten, dass die Polizei hier doch weitgehend im Dunkeln tappt.
Eric Flamée, der Ehemann von Claudia Van Der Stichelen, übt aber keine Kritik an den Ermittlern. "Die Leute tun bestimmt, was sie können", sagt Flamée in der VRT. "Und man muss ja zugeben, dass sie nicht wirklich über viele Informationen verfügen: keine Kamerabilder, kein Kennzeichen, keine Handy-Daten. Man muss sagen: Der Mann hat - wenn's auch ein wenig unglücklich klingt - sehr viel Glück gehabt, dass er so davonkommen konnte."
Das kann man wohl sagen: ein Mord am helllichten Tag in einem Vorgarten in einem belebten Wohnviertel, acht Zeugen, die ihn gesehen haben - und doch ist der Mann bislang ein Phantom.
Ermittlungen gehen weiter
Die Ermittler konzentrieren sich offenbar weiter auf die Fälle, die Claudia Van Der Stichelen in ihrer Eigenschaft als Rechtsanwältin bearbeitet hat. Sie war spezialisiert auf Scheidungsrecht, und gerade in solchen Angelegenheiten macht man sich natürlich nicht immer nur Freunde. "In der Tat, es gab da durchaus einige Akten, in denen es schon heftig zur Sache ging", sagt Ehemann Eric. "Claudia ließ sich auch nicht auf der Nase herumtanzen. Aber, es gab da doch nicht das EINE Dossier, das da jetzt herausstechen würde."
"Davon abgesehen", hakt Sohn Viktor ein, "Mord, das ist ja wohl eigentlich der letzte Schritt. Es hat im Vorfeld aber keinerlei Drohungen gegeben, die auf ein solches Szenario hingedeutet hätten".
Auch hier scheinen die Ermittler also nicht wirklich weiterzukommen. Schwer zu ertragen ist das für Ehemann Eric und Sohn Viktor. Aber viel schlimmer noch ist der Verlust. Claudia fehlt den beiden an allen Ecken und Enden. Im Haus erinnert noch alles an die Ehefrau und Mutter, die jäh aus dem Leben gerissen wurde. Zu allem Überfluss sind auch Claudias beide Elternteile in den Monaten nach dem Mord verstorben, erst Opa Valeer und dann auch Oma Nadine.
"Es ist nicht einfach, aber wir geben unser Bestes", sagt Ehemann Eric. "Viktor und ich, wir haben versucht, uns in den letzten zwölf Monaten zusammen durchzuschlagen. Und irgendwie ist uns das auch gelungen. Claudia hätte es nicht anders gewollt."
Roger Pint