5. August 2014: Im Kernreaktor Doel 4 schrillen die Alarmglocken. Buchstäblich! Denn: Die Schmierung der großen Turbine ist nicht mehr gewährleistet, sie droht heiß zu laufen. Eben diese Turbine ist eigentlich das Herzstück der Anlage, zumindest des nicht-nuklearen Teils. Sie wird von dem Wasserdampf angetrieben, der vom Reaktor erzeugt wird. Daran ist die Welle des Generators gekuppelt. Und so wird letztlich der Strom produziert.
Also: Diese, im Übrigen imposante Turbine ist offensichtlich trocken gelaufen. Die Mitarbeiter trauen ihren Augen nicht: In dem Turbinengehäuse befindet sich nicht mehr genug Schmiermittel. Die Anlage kann nicht mehr rechtzeitig angehalten werden, die Turbinenwelle frisst sich fest.
Immerhin: Das Ganze passiert im nicht nuklearen Teil des Kernkraftwerks, der eigentliche Reaktor ist nicht betroffen. Dennoch: Der Schaden ist beträchtlich. Die Kosten für die Reparatur und den Ausfall der Anlage werden auf insgesamt knapp 140 Millionen Euro beziffert.
Sabotage
Wie konnte das passieren? Die Ingenieure der Betreiberfirma Engie-Electrabel müssen nicht lange suchen. Der Befund ist verstörend, um nicht zu sagen erschreckend: Das besagte Schmiermittel wurde mutwillig abgelassen. Das entsprechende Ventil wurde offensichtlich von Hand geöffnet. Der Täter hat sogar daran gedacht, das Schild, das angibt, ob der Hahn geöffnet oder geschlossen ist, umzudrehen: Es zeigte nach wie vor die Position "geschlossen" an.
Sabotage also, kein Zweifel! Und das in einer so hochsensiblen Anlage! Sofort werden Ermittlungen aufgenommen. Und natürlich wird von vornherein auch ein möglicher terroristischer Hintergrund zumindest als möglich betrachtet. Deswegen übernimmt auch sehr schnell die Föderale Staatsanwaltschaft den Fall. Wobei auch wesentlich unspektakulärere Motive nicht ausgeschlossen werden, etwa die Möglichkeit, dass ein frustrierter Mitarbeiter einen Groll auf seine Chefetage hegte.
Ermittlungen laufen ins Leere
Der eine oder die andere mag sich damals noch gedacht haben, dass es doch nicht so schwer sein kann, den Verantwortlichen für den Sabotageakt zu ermitteln. Denn: Man darf doch davon ausgehen, dass der Zugang zu diesem sensiblen Bereich streng geregelt ist, also das nicht Hinz und Kunz in die Nähe von besagtem Ventil kommen kann. "Falsch gedacht" stellte sich heraus. Wie die Zeitung L'Echo berichtet, sei das System der Magnetkarten damals noch nicht besonders ausgefeilt gewesen. Konkret: Die Zugangsberechtigungen zu den verschiedenen Bereichen wurden noch nicht wirklich individuell auf die einzelnen Mitarbeiter zugeschnitten. Zumindest nicht so systematisch, wie es eigentlich hätte Standard sein sollte. Außerdem gab es im fraglichen Werksbereich nicht genügend Überwachungskameras.
Resultat jedenfalls: Der Kreis der potenziell Verdächtigen ist zu groß. Und aus diesem Grund fahren sich die Ermittlungen fest. 2022 wird die Akte geschlossen. Die Hintergründe des Sabotageakts - immerhin in einem Kernkraftwerk - sind bis heute ungeklärt.
Buch eines Energieexperten: Sicherheitsproblem
"Ungeklärt, weil unbequem, und deshalb unter den Teppich gekehrt", hakt hier aber sinngemäß ein Buch ein, das sinnigerweise jetzt, also genau zehn Jahre nach dem Vorfall erscheint. Der flämische Energieexperte Alex Polfliet rollt darin die Geschichte nochmal auf.
Seiner Ansicht nach gibt es ernstzunehmende Hinweise darauf, dass es im Kernkraftwerk Doel damals ein Sicherheitsproblem gab. Erstmal erinnert er noch einmal daran, dass es in den Wochen vor dem Vorfall schon zwei Sabotageversuche gegeben hatte, und zwar an Pumpen des Sekundärkreislaufs.
Hinzu kommt: 2012, also zwei Jahre vor dem Sabotageakt, seien zwei Mitarbeiter nach Syrien gegangen, um sich dort der Terrororganisation IS anzuschließen, sagte Polfliet im ostflämischen Regionalsender "TV Oost". Das zeige doch, dass es zumindest zu diesem Zeitpunkt innerhalb der Belegschaft noch Leute gab mit einem "terroristischen Profil".
Anderes Indiz: In den Monaten nach dem Vorfall sind mehrere Mitarbeiter des AKW Doel entlassen worden, und das ausdrücklich wegen Sicherheitsbedenken. Man spricht von 60 Leuten, von denen einige anscheinend radikalisiert waren.
Kein Bekennerschreiben
Das ist in der Tat besorgniserregend, beweist allerdings nichts. Nicht unwichtiges Argument: Niemand hat sich zu der Tat bekannt. Die Zeitung L'Echo weist auch darauf hin, dass Alex Polfliet sein Leben lang in Umweltschutzorganisationen aktiv war und auch in grünen Kabinetten gearbeitet hat.
Einige Fragen, die sich Polfliet stellt, mögen dennoch berechtigt erscheinen. Es gab einen Kreis möglicher Verdächtiger, sagt der Buchautor. Wo sind diese Leute jetzt? Arbeiten die noch im fraglichen Bereich? Wenigstens auf diese Fragen dürfe man doch wohl Antworten erwarten.
Roger Pint