Anne Teresa De Keersmaeker ist eine Säulenheilige, und das wirklich im wahrsten Sinne des Wortes. Erstmal ist sie eine Lichtgestalt in ihrem Bereich: Mit ihrer Kompanie "Rosas" schuf sie einen neuen Stil und drückte dem zeitgenössischen Tanz ihren Stempel auf - und das nicht nur in Belgien, sondern weltweit.
Ihre Wirkung kann man an einer Anekdote ablesen: 2011 veröffentlichte die US-amerikanische R&B-Sängerin Beyoncé ein Musik-Video. Auf dem Song "Countdown" tanzt sich der US-Superstar durch ein Industrie-Gebäude. Da gibt's nur ein Problem: Viele dieser Tanzschritte gab's schonmal, sind über ganze Strecken eins zu eins kopiert aus dem Stück "Rosas danst Rosas" von Anne Teresa De Keersmaeker. Die Choreographin aus Mechelen verklagte die Soul-Diva aus den USA wegen Plagiats - mit Erfolg; man einigte sich außergerichtlich.
Seit mehr als 40 Jahren liefert Anne Teresa De Keersmaeker mit ihrem Ensemble Rosas eine Produktion nach der anderen ab - alle in der Fachwelt hochgelobt. Eine große Künstlerin eben. Doch passt der Begriff Säulenheilige auch noch in seinem ursprünglichen Sinn: Wie ein asketischer Mönch alleine auf der Spitze seiner einsamen Säule, so sehr scheint sich auch Anne Teresa De Keersmaeker vom Leben der Normalsterblichen abgewandt zu haben. Seit Jahren schon zeigt die Kompanie Rosas Risse, die sogar von außen zu erkennen sind. Kurz gesagt: Der Grande Dame laufen die Mitarbeiter weg. Einige von ihnen haben jetzt ausgepackt, Leute aus dem Management und auch Tänzerinnen und Tänzer. Ihre Geschichte stand am Wochenende in der Zeitung De Standaard. Und es ist keine schöne Geschichte.
Klima der Angst
Diese Geschichte handelt eben von einer herrischen Chefin, die sich offensichtlich für eine Göttin hält, sich jedenfalls wie eine solche aufführt. "Passiv-aggressiv", "autoritär", "unvorhersehbar", diese Adjektive fallen häufig. Viele beklagen ein Klima der Angst, in dem Demütigungen aller Art zum Alltag gehören. De Keersmaeker funktionierte demnach nach der alten Maxime "teile und herrsche". Sie hatte immer ihre Favoriten, und, wer nicht zu diesem erlauchten Kreis gehörte, der wurde niedergemacht, gedemütigt, regelrecht zerpflückt vor der ganzen Mannschaft. "Man wurde gepusht, bis man brach", wird ein früherer Tänzer zitiert.
Und das ging noch weiter. Auch auf körperliche Befindlichkeiten aller Art nahm die Chefin keine Rücksicht. War ein Tänzer verletzt, so hatte er alles Interesse daran, dennoch aufzutreten. Denn die Bestrafung war schlimmer. Höhepunkt war anscheinend die Corona-Krise. Anne Teresa De Keersmaeker hielt das Ganze anscheinend für eine "Verschwörung der Pharmaindustrie", ließ sich entsprechend auch nicht impfen, und tat in der Praxis so, als gäbe es die Pandemie nicht und auch nicht die staatlich verordneten Schutzmaßnahmen. Wer krank war, der war einfach nur schwach. Und im Zweifel wurden Corona-Tests umschifft, Quarantäne-Regeln missachtet, jegliche Auflagen also einfach ignoriert.
Toxisches Betriebsklima
Immer mal wieder gab's Beschwerden, die aber von der Chefin wütend vom Tisch gefegt wurden. Das betriebsinterne Klima wurde schon immer toxischer. Tänzer, aber auch Manager, Buchhalter, Direktionsratsmitglieder, einer nach dem anderen verließen sie die Gesellschaft. Wirklich auspacken wollte aber niemand, und das bis heute nicht. Sämtliche Aussagen, die De Standaard abdruckt, erfolgten anonym. Denn Anne Teresa De Keersmaeker ist eben in ihrem Bereich eine Autorität. Sie verfügt über ein weltweites Netzwerk. Wenn sie über jemanden den Bann ausspricht, dann kriegt der oder die Betroffene in der Branche keinen Fuß mehr auf den (Tanz)-Boden.
"Sie sei eben ein Kind ihrer eigenen Ausbildung", sagen Experten. Anne Teresa De Keersmaeker hat's nie anders gekannt. In ihrer Welt gibt es nur eiserne Disziplin und uneingeschränkte Autorität. Dass nur das die Menschen zu Höchstleistungen anspornen kann, das sei längst widerlegt, sagte in der VRT der Management-Professor Jesse Segers, der auf Menschenführung spezialisiert ist. Es gebe inzwischen eine Fülle von Beispielen, die zeigen, dass man die Menschen nicht drangsalieren muss, um sie zum Erfolg zu führen. Das wohl bekannteste Beispiel sei der Erfolgstrainer Pep Guardiola.
Das größte Problem sei im vorliegenden Fall die absolute Machtposition von Anne Teresa De Keersmaeker: Mit ihr steht und fällt die Gesellschaft. Sie entscheidet über ganze Karrieren. Und hier zeige sich nochmal, dass Fachkompetenz aus einem Menschen nicht automatisch einen guten Chef mache. "Wir sehen hier ein geradezu klassisches Beispiel", sagt Professor Segers. "Wir sehen hier jemanden, der vielleicht wundervolle Kunst schafft, der aber absolut falsch mit Menschen umgeht."
Roger Pint