Die Zahlen sind schlicht erschreckend: Bereits jetzt gibt es in Belgien mehr als eine halbe Million Langzeitkranke. Dabei handelt es sich um Menschen, die länger als ein Jahr aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr gearbeitet haben. Seit dem Jahr 2000 hat ihre Zahl nach Angaben der Nationalbank um 150 Prozent zugenommen. Dabei bilden diese Zahlen noch nicht einmal das gesamte Problem ab, weil in diesen Erhebungen beispielsweise Beamte nicht berücksichtigt sind.
Laut Berechnungen des föderalen Planbüros könnte es bis 2035 sogar mehr als doppelt so viele Langzeitkranke in Belgien geben wie Arbeitslose.
Das macht das Problem von Langzeitkranken nach Meinung vieler Experten zu der Herausforderung des Arbeitsmarkts überhaupt. Denn wirtschaftlich stellt das einen enormen Schaden dar - von der großen Belastung des Gesundheits- und Sozialsystems ganz zu schweigen.
Die häufigste Ursache für Langzeiterkrankungen sind psychische Leiden, vor allem Depressionen und Burn-outs.
"Aktuell kämpfen die meisten Sektoren mit einem Mangel an Arbeitskräften", erklärt Lode Godderis im Interview mit der VRT. Godderis ist Professor für Arbeitsmedizin an der KU Löwen und Geschäftsführer des IDEWE, des externen Dienstes für Prävention und Schutz am Arbeitsplatz. "Weniger verfügbare Arbeitskräfte bedeuten, dass der Druck auf die vorhandenen Arbeitnehmer größer wird. Sie erfahren mehr Stress am Arbeitsplatz, was vielfach zu Ermüdung und letztlich zu Erschöpfung bei den Arbeitnehmern führt. Das wiederum kann mit einem erhöhten Burn-out-Risiko in Verbindung gebracht werden", so Godderis.
Aus einer am Dienstag vorgestellten Umfrage des IDEWE unter etwa 35.000 Arbeitnehmern geht hervor, dass sich das Wohlbefinden am Arbeitsplatz 2023 im Vergleich zum Vorjahr leicht verschlechtert hat. Das Risiko, an einem Burn-out zu erkranken, ist mehr oder weniger gleich geblieben. Aber das sei kein Grund zur Entwarnung, gibt Godderis zu bedenken. Im Gegenteil, man müsse sich die Entwicklung über einen längeren Zeitraum anschauen: Seit 2014 habe die Zahl der Arbeitnehmer, bei denen ein hohes Risiko auf Burn-Out diagnostiziert worden sei, um 40 Prozent zugenommen. Auch die Zahl der Menschen, die über geistige Erschöpfung klagten, über abnehmende Begeisterung für die Arbeit oder hohen Stress, sei in den letzten zehn Jahren spürbar angestiegen.
Paradoxerweise führt diese Abnahme des Wohlbefindens laut der IDEWE-Erhebung aber nicht zu einer Abnahme der Zufriedenheit mit der Arbeit. "Im Allgemeinen sind die Menschen zufrieden mit ihrer Beschäftigung und bleiben das auch", führt Godderis aus. Fast 82 Prozent der Befragten haben demnach angegeben, eher zufrieden, zufrieden oder sehr zufrieden zu sein mit ihrer allgemeinen Job-Situation. Das sei sogar eine sehr leichte Steigerung im Vergleich zu 2014. Das schlage sich auch in einer hohen Bereitschaft nieder, im gleichen Beschäftigungsverhältnis zu bleiben, also nicht den Arbeitsplatz zu wechseln. Diese Wechselunwilligkeit sei über die letzten zehn Jahre fast gleich hoch geblieben. Das sei der gute Teil der Nachricht.
Der schlechte sei aber eben, dass das Risiko auf Erschöpfung und Burn-out so stark zugenommen habe. In einem solchen Fall habe das nicht nur ernste persönliche Folgen, sondern auch Konsequenzen für die Kollegen und die Firma an sich. Es sei also im ureigensten Interesse der Betriebe, das Problem Stress am Arbeitsplatz ernst zu nehmen und Gegenmaßnahmen zu ergreifen, betont der Arbeitsmediziner.
Boris Schmidt