Widersprüchliche Signale aus dem Mutterland des Surrealismus. Achterbahnfahrt. Jeder Tag bringt neue Eindrücke, die eine gerade erst gefasste Meinung gleich wieder kippen lassen.
Beispiel: Am Montag prügelt der sonst so gemäßigte und vernunftgesteuerte Leitartikler von Het Laatste Nieuws urplötzlich wie wild geworden auf die Frankophonen und insbesondere die RTBF ein. Hintergrund: Die frankophone öffentlich-rechtliche Fernsehanstalt hatte demonstrativ kopfschüttelnd über die Beerdigung der Ex-Vlaams-Belang-Politikerin Marie-Rose Morel berichtet. Nach dem Motto: "Unglaublich: Da wird eine ausgewiesene Rassistin beigesetzt, und ganz Flandern trauert, allen voran De Wever."
In Flandern löste besagte Reportage einen wahren Sturm der Entrüstung aus. "Aha! Der Beweis: Die Wallonen verstehen uns nicht, denken in Klischees, vergessen, dass der Mensch, der da an Krebs gestorben ist, nicht nur eine Ex-Politikerin war, sondern auch eine junge Frau, die vielen im Kampf gegen ihre Krankheit als Vorbild, als Hoffnungsträgerin galt".
Im vorliegenden Fall gilt wohl: Die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte, der eine hat in die eine und der andere in die andere Richtung übertrieben.
Fakt ist: Het Laatste Nieuws sah plötzlich schon, Zitat, "eine Berliner Mauer" zwischen Flandern und der Wallonie.
Nun gut, ein Zaun also. "Ist vielleicht doch was dran", denkt man, bis dann aber Studenten drei Tage später genau diese angebliche Mauer wieder einreißen mit ihrer Frittenrevolution. Ob nun in Gent oder Lüttich, in Antwerpen oder Louvain-la –Neuve, nicht zu vergessen Brüssel: Studenten aus Nord und Süd waren vereint in einem surrealistischen Happening. Zu feiern, wenn man den Irak als Krisenweltmeister überflügelt, das gibt es definitiv nur in Belgien.
Und so geht es weiter. Am Mittwoch kommt N-VA-Chef Bart De Wever im VRT-Fernsehen wieder einmal zu der Feststellung, dass das Land nicht mehr funktioniert. Nun gut, denkt vielleicht so mancher Zuschauer. So, wie De Wever da argumentiert, mag das einleuchten: Zwei öffentliche Meinungen, zwei grundverschiedene Wahlausgänge, widersprüchliche – um nicht zu sagen - diametral entgegengesetzte institutionelle Agenda.
Dazu nur so viel: Das ist eine billige Entschuldigung. Genau so billig ist es im Übrigen, wenn man wahlweise die N-VA, die CD&V oder beide zu den Alleinverantwortlichen für die Blockade stempelt. Das Versagen ist kollektiv! Für beide Seiten gilt: Man kann nicht beides haben, die Butter und das Geld für die Butter, um es einmal mit einem französischen Sprichwort zu halten.
Genau in dem Moment, in dem dem geneigten Beobachter besagtes Sprichwort mit der Butter durch den Kopf geht, gibt Ex-Vermittler Vande Lanotte sein Comeback.
Aber nicht, um gleich auf die Kesselflicker einzuprügeln, die ihm 99 Tage zur Hölle gemacht haben, ohne dass er oder seine Partei, die SP.A, am Ende etwas davon gehabt hätten. Nein! Vande Lanotte blickt resolut nach vorn, präsentiert seine Idee einer "Belgischen Union" mit vier Bestandteilen. "2+3=4" erinnert man sich plötzlich an die magische Formel von DG-Ministerpräsident Karl-Heinz Lambertz, der – im Übrigen mundgerecht verpackt für das Mutterland des Surrealismus - genau das auch längst predigt.
Wenn die Vande Lanotte-These also mit Sicherheit Wasser auf die Eupener Mühlen ist, so beinhaltet sie auch die Keimzelle für eine gemeinschaftspolitische Befriedung: ein Statut für Brüssel. Doch geht der Vorschlag von Vande Lanotte ja viel weiter: Es wäre eine Konföderation, ohne sie beim Namen zu nennen. Wenn man es auch nicht an Einzelheiten festmachen sollte, die sind verhandelbar: In jedem Fall würden die vier Teilstaaten dieser "belgischen Union" in ganz erheblichem Maße für die Dinge zuständig sein, die den Alltag ihrer Bürger bestimmen.
Was die These konsensfähig macht, ist die Angst, genauer gesagt, die Notwendigkeit, sie zu überwinden. Die Wallonen müssen bereit sein, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, die Flamen müssen ihre Paranoia ablegen und die Brüsseler das sein lassen, was sie sind: nicht die natürlichen Verbündeten der Wallonen, sondern eben Brüsseler. Kurz und knapp: Das föderale Belgien muss erwachsen werden.
Wenn man dann beobachtet, dass einschlägige flämische Leitartikler – unter ihnen auch Hardliner - sich mit diesem "Belgien zu viert" durchaus anfreunden können, wenn plötzlich die Frankophonen – insbesondere die PS - mit dem Brustton der Überzeugung an die Bereitschaft aller appellieren, auch die der eigenen Leute, heilige Kühe zu schlachten, dann ist plötzlich wieder Hoffnung da.
Aber: Es ist eben eine Achterbahnfahrt. An einem Tag spricht alles für Neuwahlen, am nächsten gibt es genau so viele Argumente, die dagegen sprechen. An einem Tag glaubt man, dass es richtig war, Bart De Wever endlich die Liberalen mit ins Boot zu setzen, am nächsten Tag prügelt eben dieser De Wever auf Didier Reynders ein.
Ein Fazit gibt es dennoch: Es bewegt sich etwas – ob immer in die richtige Richtung? Naja. Immerhin: Es rappelt im Karton. Nebenwirkung: Die Glaskugel ist vernebelt. Aber was soll's, tolle Achterbahnfahrt, das ist immer noch besser als totale Apathie.
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