Eigentlich ist das interföderale Zentrum für Chancengleichheit, Unia, ziemlich zufrieden, was den Schutz von Angehörigen der LGBTQ+-Gemeinschaft in Belgien angeht. Das bestätigt auch Unia-Co-Direktorin Els Keytsman. Die entsprechende Gesetzgebung in Belgien sei recht gut, so Keytsman in der VRT. Die Lage habe sich im vergangenen Jahr sogar verbessert durch einige Gesetzesanpassungen und neue Gesetze. Hier sei wirklich ein enormer Fortschritt zu verzeichnen gewesen.
Denn mittlerweile sind sogenannte Konversionstherapien explizit verboten. Bei Konversionstherapien handelt es sich um Behandlungen, deren Ziel eine erzwungene Anpassung oder Unterdrückung der sexuellen Orientierung beziehungsweise Geschlechtsidentität einer Person ist. Eine weitere wichtige Änderung betrifft die Diskriminierung von Angehörigen von LGBTQ+-Menschen. Auch gegen diese Form der Diskriminierung gibt es nun eine effektive gesetzliche Handhabe.
Aber es gebe trotzdem noch immer einen spürbaren Unterschied zwischen Theorie und Praxis, unterstreicht Keytsman. Nicht jeder sei LGBTQ+-Menschen freundlich gesonnen. Unia stelle auch eine deutliche Polarisierung der Gesellschaft fest und einen LGBTQ+-feindlichen politischen Kontext. Dieser Befund sei beunruhigend.
Rolle der sozialen Netzwerke
Unia verweist in diesem Zusammenhang auch explizit auf die Rolle der sozialen Netzwerke: Die Tech-Konzerne seien verantwortlich für immer extremere Positionen. Das bekämen auch LGBTQ+-Menschen zu spüren durch feindselige, verächtliche, drohende oder beleidigende Äußerungen, die nicht mehr vom Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt seien. Solche Äußerungen würden durch die Algorithmen der sozialen Medien überproportional stark verbreitet. Unia stelle auch fest, dass Angehörige der LGBTQ+-Gemeinschaft noch immer die Hauptopfer seien von Gewalt, Einschüchterungen und Mobbing – und zwar nicht nur in den sozialen Netzwerken, sondern auch auf der Straße, erklärt Co-Direktor Patrick Charlier.
Im vergangenen Jahr habe Unia mehr Klagen wegen Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung erhalten, ergänzt Keytsman. Im Vergleich zu den Zahlen von vier Jahren früher sei eine Zunahme um vier Prozent festzustellen. Auch die Zahl der LGBTQ+-Dossiers, in denen es um Gewalt und Einschüchterung gehe, sei auf einem Fünfjahreshoch. Dabei stellten die Klagen, die Unia erreichten, sowieso nur die berühmte Spitze des Eisbergs dar, man müsse von einer enorm hohen Dunkelziffer ausgehen.
Studie der EU-Agentur für Grundrechte
Bei dieser Aussage stützt sich Unia unter anderem auf eine neue Studie der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA). Aus dieser Untersuchung gehe hervor, dass in Belgien gerade einmal 14 Prozent der LGBTQ+-Menschen Hilfe bei der Polizei gesucht hätten, nachdem sie Opfer einer Aggression geworden seien. Das Problem sei also wohl noch viel größer, als es die aktuellen Zahlen nahelegten.
Deswegen fordert Unia auch, dass die Politik umgehend aktiv wird in der nächsten Legislatur. Angesichts der steigenden Zahl der Dossiers und der Zunahme des Hasses und der Gewalt fordere Unia alle künftigen Regierungen des Landes auf, endlich einen neuen interföderalen Aktionsplan auf den Weg zu bringen, um die Diskriminierung von und die Gewalt gegen LGBTQ+-Menschen besser zu bekämpfen, fasst Co-Direktorin Keytsman zusammen.
Boris Schmidt