Bauunternehmer, Immobilienverkäufer, sozialer Wohnungsbau, private Vermieter – sie alle sind zwar im Immobiliensektor aktiv, haben aber längst nicht immer die gleichen Interessen. Dass sie gemeinsam einen offenen Brief an die Politik verfassen, ist also zumindest schon mal ungewöhnlich. Aber vor allem der dramatische Tonfall lässt aufhorchen: Belgien steuere auf eine nie dagewesene Wohnkrise zu.
Die Politik verschließe Augen und Ohren und tue nichts dagegen, während die Bürger machtlos seien. Das Recht auf bezahlbaren Wohnraum gerate in Gefahr. Das Problem betreffe nicht nur alle Bereiche des Immobiliensektors, sondern auch alle Regionen des Landes und sowohl Städte als auch ländliche Gegenden.
Wohnungsnot
Alle Akteure könnten die Wohnungsnot sehen, bestätigt auch Immobilienexperte Lorenzo Van Tornhaut, einer der Unterzeichner, gegenüber der VRT. Ausreichend Wohnraum sei einfach essenziell für Familien und um sich ein Leben aufzubauen. Aber den gebe es nicht. Der Druck werde überall immer größer. Angefangen beim Mietmarkt. Der sei in Belgien ohnehin vergleichsweise klein.
Hinzu komme, dass traditionell vor allem einkommensschwächere Bevölkerungsgruppen mieteten. Wenn genug Geld da sei, werde normalerweise gekauft und nicht gemietet. Und weil diese Bevölkerungsschichten eben finanziell schwächer seien, spürten sie den Druck auf dem Wohnungsmarkt auch am schnellsten.
Steigende Zinsen
Es gebe in Belgien zwar auch sehr viele Immobilieneigentümer, so Van Tornhaut. Aber man sehe, dass auch dieses Modell an seine Grenzen stoße. Ein Grund dafür seien natürlich die steigenden Zinsen. Die machten das Abbezahlen von Krediten und damit den Erwerb von Immobilien schwieriger.
Aber das sei bei Weitem nicht das einzige Problem. Es fehle vor allem am Angebot. Jedes Jahr würden systematisch weniger Genehmigungen erteilt und weniger Wohnraum gebaut. Eine Trendumkehr sei für die Unterzeichner des Briefs auch nicht in Sicht, weder kurz- noch mittelfristig.
Hier nehmen die Experten vor allem die lokalen Behörden in die Pflicht, denn schließlich sind sie für Baugenehmigungen und -verordnungen zuständig. Hier sehe man nicht nur, dass oft sehr lokal begrenzt gedacht werde, sondern auch, dass nur an die Interessen der aktuellen Bevölkerung gedacht werde. Auch künftige Generationen hätten jedoch Rechte, betont Van Tornhaut. Aber da sie keine Stimme hätten, würden sie bei der Debatte um Wohnraum einfach vergessen.
Ganzheitliches Vorgehen
Schon binnen zwei bis drei Jahren könne die Wohnungsnot extrem werden, warnen die Experten, wenn nicht eingegriffen werde. Mit den bisherigen Maßnahmen zur Linderung der Wohnungsnot sind sie außerdem alles andere als zufrieden. Meist beschränkten sich die auf Prämien oder günstigere Registrierungskosten. Das erhöhe zwar das zur Verfügung stehende Budget für Kaufinteressenten, aber wenn das nicht einhergehe mit einer Vergrößerung des Angebots, dann würden dadurch nur die Preise künstlich aufgeblasen.
Stattdessen sei ein ganzheitliches Vorgehen nötig: Raumordnung, Mobilität, Baukosten, bauliche Verdichtung, Biodiversität, Raum für die Landwirtschaft, Vergreisung und viele andere Faktoren müssten in die Debatte miteinbezogen und bei Lösungen berücksichtigt werden. Und da müsse auch ganz explizit Platz sein für Experimente und Pilotprojekte, die von etablierten Normen abwichen, und für Projekte, die nicht nur Finanzen, sondern das gesellschaftliche Interesse in den Mittelpunkt stellten. Viele Politiker stimmten solchen Ideen zwar im Prinzip zu, so Van Tornhaut. Aber der Blick in die Praxis zeige, dass viele Instrumente eher das genaue Gegenteil bewirkten.
Boris Schmidt