Die gute Nachricht zuerst: Körperliche Gewalt gegen Politiker kommt in Belgien glücklicherweise sehr selten vor. Das bestätigt Anne Van Bavel, Politikwissenschaftlerin an der Freien Universität Brüssel VUB und Mitautorin der Studie, im Interview mit Radio Eén. Um sich ein Bild der Situation zu machen, haben sie und ihre Kollegen Politiker aller Parlamente und Regierungen des Landes nach ihren Erfahrungen mit verschiedenen Formen von Gewalt befragt, von der regionalen bis zur föderalen Ebene.
Etwa ein Viertel aller Politiker betroffen
Aber auch wenn physische Gewalt kein großes Thema ist – psychische Gewalt ist es dafür umso mehr. Es sei zwar nicht so, dass jede Politikerin und jeder Politiker täglich mit Hass konfrontiert werde, bei ungefähr einem Viertel von ihnen sei das aber der Fall.
Das Problem sei allerdings komplex, psychische Gewalt könne sich auf vielen Ebenen abspielen. Drohungen, Einschüchterung, Beleidigungen, die Veröffentlichung falscher oder privater Informationen und so weiter – solche Angriffe könnten von Bürgern kommen oder auch von Politiker-Kollegen, sie könnten sich im öffentlichen Raum abspielen, bei der Arbeit oder online, im Internet.
Betroffen seien auch nicht nur die Politiker selbst, sondern auch ihnen nahestehende Personen oder Familienmitglieder.
Schwere Auswirkungen
Das habe schwere Auswirkungen auf das mentale Wohlbefinden von Politikern – so wie bei allen Menschen, die solchen Attacken ausgesetzt seien, betont Van Bavel. Stress, Müdigkeit, Schlafstörungen, Probleme bei der Ausübung ihrer Aufgaben – all das seien mögliche Folgen von Online-, psychischer und anderer Gewalt.
Manche Politikerinnen und Politiker zögerten deswegen auch immer mehr, sich in der Öffentlichkeit zu bewegen oder bestimmte Positionen zu vertreten. Die Hälfte der befragten Politiker gebe auch an, deswegen die Sozialen Medien weniger zu nutzen beziehungsweise weniger häufig entsprechende Reaktionen zu lesen.
Handtuch werfen
Dass Politiker einfach irgendwann das Handtuch werfen, sei ein Phänomen, das auch in Belgien immer häufiger vorkomme. 15 Prozent der Politiker gäben an, häufig darüber nachzudenken, wegen der Gewalt die Politik ganz zu verlassen.
15 Prozent ist allerdings nur ein Durchschnittswert. Denn Angehörige bestimmter Gruppen sehen sich besonders häufigen Anfeindungen ausgesetzt: nämlich etwa Frauen, junge Menschen und ganz sicher nicht zuletzt auch Menschen mit Migrationshintergrund. Die logische Folge: Bei Politikern mit Migrationshintergrund denken nicht nur 15 Prozent regelmäßig ans Aufgeben, sondern sogar 40 Prozent. Und besonders brutal ist diese Erfahrung natürlich für Menschen, die in mehrere dieser Kategorien gleichzeitig fallen. Also zum Beispiel junge Frauen mit Migrationshintergrund.
Da sei ein besonders großes Problem, so die Forscherin. Denn das bedeute, dass Vertreter von ohnehin stark unterrepräsentierten Bevölkerungsgruppen stärker Gewalt ausgesetzt seien und so aus der Politik gedrängt würden.
Viel Luft nach oben
Positiv zu vermerken sei aber, dass sich die Gesellschaft dieser Probleme bewusster werde, erklärt die Forscherin. Die Einsicht wachse, dass so ein Verhalten nicht hinnehmbar sei.
Aber dennoch sei da natürlich noch viel Luft nach oben: Parlamente und auch Parteien könnten etwa deutlich strengere Regeln erlassen, was den Umgang miteinander angehe, unabhängige Meldepunkte könnten helfen – und sicher müssten auch die Social-Media-Konzerne stärker in die Verantwortung genommen werden, was den Online-Hass angehe.
Boris Schmidt
Wer Wind sät, muss sich nicht wundern, wenn er Sturm erntet.
Über die Ursachen wird nicht gesprochen. Die sind wahrscheinlich in der Politik selbst zu suchen.