Ist diesem Land denn über Nacht wirklich jene Qualität abhanden gekommen, die es bislang ausgemacht hat? Mit Namen: Kompromissfähigkeit. Die Frage zwingt sich nicht nur wegen des Trauerspiels um die Brüsseler Regierungsverhandlungen auf. Neues Beispiel dafür, wie sehr eigene Interessen oder Befindlichkeiten inzwischen dem Gemeinwohl übergeordnet werden, ist die Haltung von der liberalen Gewerkschaft CGSLB und der sozialistischen Gewerkschaft FGTB.
Man muss sich ja noch nicht einmal anmaßen, die Feinheiten und Fallstricke eines hochkomplexen Textes wie eines Rahmentarifabkommens wirklich "en détail" zu verstehen. Allein die Tatsache, dass die Arbeitgeber und auch mit der CSC nicht irgendeine, sondern nach wie vor die größte Gewerkschaft des Landes das Abkommen gutgeheißen haben, zeigt doch, dass es so unannehmbar nicht gewesen sein kann.
Untrügerisches Zeichen dafür, dass der Kompromiss ausgewogen war: Niemand war mit dem Abkommen wirklich glücklich. Die Arbeitgeber nicht, weil etwa die Lohn-Index-Bindung in der Praxis unangetastet blieb. Die CSC auch nicht, weil z.B. die geplante Angleichung des Arbeiter- und des Angestelltenstatuts zu langsam erfolgte und zudem auf Kosten der Angestellten. Aber nun gut, so hieß es da: "Mehr war eben nicht drin, es ist nunmal ein Kompromiss, wir wollen Verantwortungsbewusstsein an den Tag legen und warten auf bessere Zeiten".
Jeder am Verhandlungstisch, auch die FGTB- und die CGSLB-Vertreter, waren sich darüber im Klaren, dass das Wort historisch kaum zu hoch gegriffen war. Indem man ein Einheitsstatut auf den Weg brachte, hatten die Sozialpartner nämlich eine Bombe entschärft, die man als "ihr BHV-Problem" betrachten kann. Zudem hatte man den Beweis erbracht, dass der fast sprichwörtliche belgische Sozialdialog auch in schwierigen Zeiten - nämlich bei leeren Staatskassen - immer noch funktioniert.
Doch während noch die halbe Welt das Verantwortungsbewusstsein und die Größe der Sozialpartner lobte, das Rahmentarifabkommen gar als Vorbild für die Streithähne in der Brüsseler Rue de la Loi gepriesen wurde, kamen zwei Gewerkschaften daher und schossen es mir nichts dir nichts ab.
Das sei nun mal Demokratie, gab der FGTB-Vorsitzende Rudy De Leeuw zu bedenken. Es sei die Basis gewesen, die so entschieden und sich damit über die Meinung der Verhandlungsführer hinweg gesetzt habe. Mag sein - doch stellen sich De Leeuw und auch die Generalsekretärin Anne Demelenne damit ein Armutszeugnis aus?
Sie wurden mit Pauken und Trompeten diskreditiert, haben es nicht geschafft, die radikalen Stimmen zu übertönen, ihr Baby (denn es war auch ihr Baby) den verschiedenen Branchen-Sektionen zu verkaufen. CSC-Chef Luc Cortebeek, der immerhin auch mit dem Angestellten-Flügel die größte Sektorenvereinigung gegen sich hatte, und der doch am Ende zwei Drittel der Mitglieder zum Absegnen des Abkommens bewog, hat gezeigt, dass es auch anders geht.
In der Zwischenzeit mobilisiert insbesondere die FGTB ihre Leute. Reihum soll im ganzen Land gestreikt werden. Höhepunkt soll dann am 4. März ein nationaler, branchenübergreifender Ausstand sein. Und man hat den Eindruck, dass die Streik-Maschinerie nicht mehr zu stoppen ist - egal, was die Regierung da jetzt vorschlägt.
Man darf sich da durchaus die Frage stellen, wo das noch hinführen soll. Mit Verlaub, aber verkennt man bei der FGTB nicht die Zeichen der Zeit? Klar ist es legitim, gewisse Auswüchse des Kapitalismus' als dramatische Fehlentwicklungen zu brandmarken. Klar ist es legitim, sich die Frage zu stellen, ob Betriebe, die inzwischen wieder satte Gewinne machen, nicht den Bogen überspannen, wenn sie im Namen der sakrosankten Wettbewerbsfähigkeit ihr Personal weiter zu Lohnmäßigung zwingen wollen.
Aber Belgien ist keine Insel. Das Rahmentarifabkommen sah immer noch Lohnerhöhungen von bis zu 4,3 Prozent vor. In anderen Ländern könnte jede Gewerkschaft ihrer Basis damit durchaus unter die Augen treten. In Belgien offensichtlich nicht.
Gut, rund vier Prozent sind allein der Lohn-Index-Bindung gedankt - die 0,3 kommen obendrauf. Nur sollte man in Belgien nicht vergessen, dass die Lohn-Index-Bindung nicht gottgegeben ist. Es gibt sie nur in Belgien und Luxemburg - in anderen Ländern muss man sich schon besagte vier Prozent Lohnerhöhung erst erkämpfen.
Prinzipiell sei jedem Arbeitnehmer, jedem Erwerbslosen, jedem Pensionierten jedweder Bonus gegönnt. Doch muss das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmen. Wenn jetzt angesichts dessen, was da auf dem Tisch lag, schon wieder ein ganzes Land auf Raten lahmgelegt wird, dann muss man sich jedenfalls nicht wundern, wenn sich potentielle Investoren - neue Arbeitgeber - im Zeitalter von Mobilität und Internet anderswo umsehen.
Und wenn man sich dann noch vor Augen hält, was früher oder später sonst noch auf uns zukommen wird, dann muss man fast schon mit dem Schlimmsten rechnen. Nicht vergessen: Bis 2015 muss Belgien den Gürtel deutlich enger schnallen. Um es einmal salopp auszudrücken: Wenn zwei Gewerkschaften schon ein Land platt legen, wenn es bis zu 4,3 Prozent mehr Geld gibt, was soll dann erst passieren, wenn es plötzlich sparen heißt?
Zur politischen Instabilität könnte sich jetzt also auch noch sozialer Unfriede gesellen. Wer glaubt, dass Belgien sich das leisten kann, der lebt auf einem anderen Planeten. Es ist wie in der Politik: Wenn die radikalsten Elemente anfangen, die Stimme der Vernunft auszublenden und den Ton anzugeben, dann wird jeglicher Kompromiss unmöglich. Und wer statt Kompromissbereitschaft nur noch Eigeninteresse, Dogmatismus und Starrsinn an den Tag legt, der erstickt auf Dauer jegliche gesellschaftliche Debatte.