"Wer schön sein will, muss leiden". Diese Binsenweisheit ist wahrscheinlich so alt wie die Menschheit, nur scheinen das einige doch allzu wörtlich zu nehmen. Die RTBF berichtet über einen neuen Trend in sozialen Netzwerken und liefert dazu auch gleich einige "Beweisvideos" mit: Man sieht junge Frauen, wie sie vor laufender TikTok-Kamera eine Art Spritze an die Lippen führen und sich dann selbst ein Produkt injizieren - Lippenaufspritzen in der Do-it-yourself-Variante.
Dem gemeinen Mediziner wird beim Anblick dieser doch verstörenden Bilder regelrecht unwohl. Denn es versteht sich von selbst, dass das ein Eingriff ist, den zwingend ein Profi vornehmen muss. "Hier gibt es enorme Risiken", bestätigte in der RTBF Dr. Pierre-Paul Roquet-Gravy, Dermatologe am Grand Hôpital in Charleroi. Zum Beispiel besteht die Gefahr einer Embolie, also einer Gefäßverstopfung. Das hat oft dramatische Auswirkungen. So kann das Gewebe regelrecht absterben. Bei einer falschen Injektion droht sogar eine Nekrose der ganzen Lippe.
Zum Lippenaufspritzen wird ein sogenannter "Füller" verwendet, also ein Produkt, das eben - im vorliegenden Fall - der Lippe mehr Volumen gibt. Aktuell ist das in der Regel Hyaluronsäure. Diese Substanz ist eigentlich ein wichtiger Bestandteil des Bindegewebes, das durch eine Injektion also verstärkt werden soll - dies allerdings immer unter der Voraussetzung, dass das Produkt auch wirklich dort landet, wo es hingehört. Wenn jemand live vor einer Videokamera mit einer Spritze in seiner Lippe herumstochert, dann darf man da doch seine Zweifel haben.
Und diese Zweifel bestätigen sich in letzter Zeit immer häufiger in den Notaufnahmen von Krankenhäusern. "Unsere Chirurgen müssen dann die Scherben aufkehren", sagt Dr. Roquet-Gravy. "Nicht selten müssen sie Patienten regelrecht 'reparieren', die sich ihre Lippe mit irgendwelchen Do-it-yourself-Injektionen verunstaltet haben. Und das Ganze kann dramatische, lebenslange Folgen haben: Das Gesicht kann dauerhaft entstellt sein."
"Wie ist es möglich?", mag sich da der eine oder die andere fragen. Nun: Theoretisch dürfte es das gar nicht sein. Denn: Der Verkauf solcher Füller und anderer Produkte dieser Art ist in Belgien verschreibungspflichtig. Also man kann sie nicht mal eben in der Apotheke um die Ecke bekommen. Aber man ahnt es schon: Im Internet ist das nur eine Sache von einigen, wenigen Klicks. Die RTBF hat den Test gemacht: Innerhalb von nur ein paar Minuten haben die Journalisten einen Füller geordert. Gerade einmal etwas mehr als fünf Euro hat das gekostet. Das alles ohne Altersüberprüfung, versteht sich. Ganz zu schweigen von irgendwelchen medizinischen Ratschlägen oder Hinweisen. "Und das kann's doch nicht sein!", schimpft Dermatologe Pierre-Paul Roquet-Gravy. "Hier muss die Politik wirklich mal ein Auge drauf werfen. Der Verkauf solcher Produkte muss - koste es, was es wolle - eingeschränkt und kontrolliert werden".
Eigentlich sollten die Fotos von Opfern dieser Eigenbehandlungen auch schon reichen, um potenzielle Nachahmer abzuschrecken. Denn: Die Folgen einer falsch platzierten Injektion sind wirklich nicht schön anzusehen. Doch scheint der Trend insgesamt inzwischen nicht mehr aufzuhalten zu sein. Im französischen Sprachraum sorgte zuletzt ein Buch für Furore: "Génération bistouri", übersetzen könnte man das mit "Generation Schönheits-OP". Die beiden Autorinnen Elsa Mari und Ariane Riou zeigen darin die Exzesse des Schönheitskults in Frankreich auf. Die wohl erschreckendste Feststellung steht schon im Klappentext: Die Altersgruppe der 18- bis 34-Jährigen ist - noch vor den 50 bis 60-Jährigen - die Generation, die am häufigsten ästhetisch-plastische Eingriffe vornehmen lässt.
Roger Pint