"Wir sagen nur die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Das ist von kapitaler Bedeutung. Damit diese Scheinheiligkeit endlich mal ein Ende hat." Starke Worte einer betagten Dame als Einstieg in die erste Folge der VRT-TV-Doku Godvergeten. Der Satz bringt die Stoßrichtung der Sendereihe auf den Punkt. Man könnte das so zusammenfassen: "Jetzt reden die Opfer des sexuellen Missbrauchs in der Katholischen Kirche. Sie reden an gegen das Vergessen; sie klagen an. Und wenn seit der fraglichen Tat auch Jahrzehnte vergangen sind".
Das gilt zum Beispiel für Dianne. Die 83-jährige Dame nimmt ein Schwarzweißbild aus einem Schuhkarton. "Das ist das tragischste Foto", sagt Dianne mit bebender Stimme. "Mein Bruder Piet. Und neben ihm Robert, bei uns zuhause." Besagter Robert trägt Sutane und Römerkragen. Offensichtlich ein Priester also. Er war Direktor der Schule, die Piet besuchte. "Ach, schauen Sie mal", sagt Dianne. "Auf der Rückseite des Fotos stehen zwei Daten: 1. Februar 1944, da ist unser Piet geboren. Und dann der 1. Februar 1959: Das ist der Tag, an dem Piet von Robert missbraucht wurde." Wegen dieser traumatischen Erfahrung sollte Piet später Suizid begehen. Für Dianne sind die Erinnerungen an die Tragödie so gegenwärtig, als wäre es gestern gewesen.
Godvergeten, gottvergessen: Die Doku hat in Flandern noch einmal eine regelrechte Schockwelle ausgelöst. Und das ging dann am Ende tatsächlich so weit, dass sich das Parlament der Thematik angenommen hat. Die Kammer beschloss, einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss einzusetzen, um den sexuellen Missbrauch in der Katholischen Kirche noch einmal aufzuarbeiten. "Noch einmal", denn eigentlich hatte sich bereits ein Sonderausschuss mit dem schwierigen Thema beschäftigt. Das war 2011; im Fahrwasser der berühmten "Operation Kelch": Ein Jahr zuvor hatten die Polizei und Justizbehörden eine spektakuläre Razzia in den Räumlichkeiten des Erzbistums Mechelen-Brüssel durchgeführt. Und schon damals war das wahre Ausmaß des Skandals, zumindest auf Ebene Belgiens, deutlich geworden.
Dieser nunmehr zweite parlamentarische Untersuchungsausschuss will sich jetzt aber vor allem auf die Opfer konzentrieren und dabei zum Beispiel der Frage nachgehen, ob bzw. wie sich um sie gekümmert wurde.
Als erster wurde der vor allem in Flandern sehr bekannte Priester Rik Devillé angehört. Er ist der wohl lauteste Kritiker der Kirche, wenn's um deren Umgang mit der Problematik geht. Und er hat auch maßgeblich dazu beigetragen, dass die Missbrauchsfälle überhaupt bekannt geworden sind, dass viele Opfer erst ihr Schweigen gebrochen und ihre Peiniger angeklagt haben.
Seine Botschaft war klar und deutlich: "Überlasst denen niemals mehr alleine die Aufarbeitung", fordert Rik Devillé. "Die", das ist freilich die Kirche, die ja viel zu lange geglaubt hatte, dieses "Problem" intern lösen zu können. Mit dem Resultat, dass Sexualtäter einfach versetzt wurde, wo sie dann unbehelligt weitermachen konnten.
Devillé wies darauf hin, dass seit der Zeit des ersten Sonderausschusses schon sechs Millionen Euro an Entschädigungszahlungen an die Opfer geflossen seien. Sechs Millionen, bei etwas mehr als 1.100 Akten: Das macht im Durchschnitt 5.300 Euro. "Wenn sie mich fragen, muss man da zwei Nullen dranhängen", sagt Devillé. "Das Hundertfache würde ungefähr dem tatsächlichen Schaden gerecht. Also: Eine halbe Million." Aber es gehe natürlich nicht nur um Geld, sondern vor allem um psychologische Begleitung, betont Devillé.
Der eine oder die andere hatte aber im Vorfeld die Befürchtung geäußert, dass das eine rein flämische Veranstaltung wird, da in der VRT-Doku natürlich in aller erster Linie flämische Opfer aufgetreten sind. Der PS-Abgeordnete Daniel Senesael glaubt das nicht. Es fängt damit an, dass er selbst ein Missbrauchsopfer ist. "Wir waren drei Messdiener; und wir alle wurden Opfer sexueller Übergriffe bzw. sexueller Gewalt. Natürlich gab's das auch in der Wallonie."
Der Ausschuss werde bald einen Aufruf starten, um Opfer ausfindig zu machen, die vor der Kommission ihre Erfahrungen schildern wollen. Und er sei davon überzeugt, sagt Senesael, dass sich darauf Menschen aus dem ganzen Land melden werden.
belga/vrt/rtbf/est/mh