Sint-Lievens-Houtem, am vergangenen Samstag. In der 10.000-Seelengemeinde, auf halbem Weg zwischen Aalst und Gent, geht alles seinen gewohnten Gang. Ein ganz normaler Samstag, auch im Ortsteil "Het Eiland", wo unter anderem die 58-jährige Claudia Van Der Stichelen mit ihrer Familie in einer schmucken Villa wohnt. Zusammen mit ihrem Mann betreibt sie eine Anwaltskanzlei; die Büroräume befinden sich in ihrem Wohnhaus.
Um 13:20 Uhr wird die beschauliche Ruhe durchbrochen. Das Viertel wird durch mehrere Pistolenschüsse aufgeschreckt. Als die Rettungskräfte an der Villa von Claudia Van der Stichelen ankommen, bietet sich ein Bild des Grauens: Claudia Van Der Stichelen liegt auf der Schwelle der Eingangstüre, sie blutet stark. Daneben ihr 22-jähriger Sohn, der ebenfalls schwer verletzt ist. Die Rechtsanwältin wurde von zwei Kugeln getroffen. Sie lebt noch, als die Helfer eintreffen. Doch sind die Verletzungen zu gravierend: Claudia Van Der Stichelen stirbt noch am Tatort, vor den Augen ihres Sohnes und ihres Ehemannes, der just in diesem Moment von einer Radtour zurückgekommen war. Der Sohn wird mit schweren Verletzungen in ein Krankenhaus gebracht. Drei Mal wurde er an der Schulter getroffen. Er muss notoperiert werden, hat aber überlebt.
Schockstarre. Die Nachbarn, die Dorfbewohner, auch die Helfer: Alle sind fassungslos. Ein Mord! In Sint-Lievens-Houtem! Am helllichten Tag!
Täter weiter flüchtig
Zeitungen bemühen sich seither, die Ereignisse genau zu rekonstruieren. Laut Erkenntnissen von Het Laatste Nieuws und Het Nieuwsblad war es demnach so: Um 13:20 Uhr wird ein Mann an der Tür der Villa vorstellig. Er trägt einen grünblauen Overall, Stiefel und einen schwarzen Rucksack. Höchstwahrscheinlich verschafft er sich gewaltsam Zugang zu der Wohnung. Claudia Van Der Stichelen, die sich im Eingangsbereich befindet, wird völlig überrascht. Er bedroht die Frau offenbar mit einem Hammer; es kommt zu einem Handgemenge. Irgendwie kann sie sich losreißen, sie flüchtet auf nackten Füßen zur Eingangstüre und dann nach draußen. "Hilfe, Hilfe, hier ist ein Verrückter im Haus", ruft sie noch in Richtung der Nachbarn. Der Täter schießt ihr in den Rücken; danach feuert er noch einmal auf die am Boden liegende Frau.
In der Zwischenzeit hat der Sohn von Claudia Van Der Stichelen den Tumult im Erdgeschoss gehört. Er schnappt sich ein Luftgewehr und rennt die Treppe runter. Unten angekommen fleht er den Täter an, seine Mutter in Ruhe zu lassen. Daraufhin eröffnet der Unbekannte das Feuer auf den jungen Mann und trifft ihn drei Mal an der Schulter.
Danach ergreift der Täter zu Fuß die Flucht und verschwindet von der Bildfläche. Buchstäblich, denn die sofort eingeleitete Fahndung bleibt erfolglos. "Wir suchen unter Hochdruck nach dem Täter", sagte Caroline Verschueren, Sprecherin der zuständigen Staatsanwaltschaft, in der VRT. Es würden natürlich auch die Nachbarn befragt und Kamera-Bilder ausgewertet.
Doch der Mann ist weiter wie vom Erdboden verschluckt. Dabei wurde noch am selben Wochenende ein Phantombild angefertigt und dann auch gleich an die Medien weitergegeben. Gesucht wird demnach ein niederländischsprachiger Mann zwischen 60 und 65, etwa 1,80 Meter groß, mit kurzem, grauen Haar und hoher Stirn. Zwar gingen schon zahlreiche Hinweise ein, doch hat auch das noch nicht den erhofften Durchbruch gebracht.
Motiv unklar
Die Polizei ermittelt in alle Richtungen. Claudia Van Der Stichelen war Rechtsanwältin, spezialisiert auf Ehescheidungen. Darüber hinaus war sie auch stellvertretende Friedensrichterin. Sie hatte also quasi täglich mit zwischenmenschlichen Konflikten zu tun. Möglich also, dass der Täter einen Groll auf sie hatte. Nur wollen es die Ermittler auch nicht ausschließen, dass Claudia Van Der Stichelen den Mann persönlich gar nicht kannte. Das kann man möglicherweise aus dem Wortwechsel schließen, den es zwischen beiden gegeben hat. Das Motiv ist also weiter völlig unklar.
Auch die Tatwaffe bleibt verschwunden. Die Spurensicherung hat in den letzten Tagen die gesamte Umgebung durchkämmt und dabei zum Teil auch schweres Gerät eingesetzt: nichts! Anscheinend wollen die Ermittler auch nicht ausschließen, dass der Mann nach der Tat Suizid begangen hat.
Trauerbuch eingerichtet
Dass der Mörder noch nicht gefasst, bzw. sein Schicksal nicht geklärt ist, sorge jedenfalls für Unruhe in Sint-Lievens-Houtem, sagt Bürgermeister Tim De Knyf in der Zeitung Het Laatste Nieuws. "Die Leute wollen schlicht und einfach wissen, wer Claudia Van Der Stichelen umgebracht hat. Und warum.
Inzwischen hat die Gemeinde ein Trauerbuch für Claudia Van der Stichelen eingerichtet. Damit greift die Gemeinde den Wunsch vieler Einwohner auf, den Angehörigen ihre Anteilnahme mitzuteilen.
Roger Pint