Es gibt wohl nur wenige Themen, die die Bevölkerung so stark berühren wie die Preise für Nahrungsmittel - und die Stimmung ist gereizt. Die Preise für viele Produkte beziehungsweise Grundstoffe sind auf dem Weltmarkt nämlich schon lange wieder am Sinken. Davon scheint bei den Endverbrauchern aber nicht viel anzukommen. Kein Wunder also, dass viele die Wirtschaft der "Gierflation" verdächtigen. Und wenn es in der Bevölkerung rumort, dann wird bekanntlich auch die Politik nervös. Wohl auch deswegen hatte der föderale PS-Wirtschaftsminister Pierre-Yves Dermagne das sogenannte "Preis-Observatorium" damit beauftragt, die Nahrungsmittelpreise zu überwachen.
Laut der Studie des Wirtschaftsministeriums weist die belgische Preisentwicklung keine Anomalien auf, wenn man sie mit der in den Nachbarländern vergleicht, fasst Julie Frère gegenüber der RTBF zusammen. Sie ist die Sprecherin der Verbraucherschutzorganisation Test-Achats. Die Preissteigerungen in Belgien fallen demnach etwas schwächer aus als in Deutschland und den Niederlanden und etwas höher als in Frankreich. Anders gesagt: Zumindest eine breite und spezifisch belgische "Gierflation" lässt sich aus den Zahlen nicht ablesen, wie die Retailexpertin und Marketing-Professorin Els Breugelmans gegenüber der VRT bestätigt.
Eigentlich eine gute Nachricht sollte man doch meinen. Aber mit dieser Lesart ist Test-Achats nicht einverstanden. Die Verbraucherschutzorganisation hat die Preise für über 3.000 Produkte in sieben Supermarktketten des Landes unter die Lupe nehmen lassen. Im Vergleich zu vor einem Jahr habe die Inflation für den belgischen Einkaufswagen 14,7 Prozent betragen, betont Julie Frère.
Dabei dürfe man aber nicht vergessen, dass die Inflation schon im letzten August über zwölf Prozent betragen habe. Das bedeute also, dass die Preise in den letzten zwei Jahren um fast 29 Prozent gestiegen seien. Und das sei schon eine sehr starke Steigerung.
Test-Achats bemängelt auch, dass die Studie des Wirtschaftsministeriums nicht berücksichtige, dass die Inflation in Frankreich viel normaler ausfalle als in Belgien. Und dass der französische Staat gerade erst wieder die Preise für über 5.000 Produkte gedeckelt habe.
Außerdem berücksichtige das Preis-Observatorium auch nicht, dass es um oft internationale Konzerne gehe, die ihre Preise grenzübergreifend künstlich aufblasen könnten, um mehr Gewinn zu machen. Das könne die Aussagekraft der Studie verzerren.
Test-Achats sieht deswegen vor allem einen Weg zu niedrigeren Preisen: Die gesunkenen Produktions- und Grundstoffkosten müssen einfach schneller an die Kunden weitergegeben werden. Deswegen müssten die Preisverhandlungen zwischen Herstellern und dem Retailsektor auch vorgezogen werden.
Andere Experten sehen hingegen eher strukturelle Probleme in der Verantwortung. Es gebe eine ganze Reihe von Faktoren, die dafür sorgten, dass die Kosten und Preise in Belgien dauerhaft höher seien als in den Nachbarländern, führt etwa Els Breugelmans aus. Ein wichtiger Punkt sei die Lohnindexierung.
Aber auch zum Beispiel die Sprachgesetzgebung mache Produkte teurer, schließlich müsse alles in zwei Sprachen beschriftet werden. Das Gleiche gelte für Werbekampagnen und ähnliches, all das seien Mehrkosten.
Dazu komme dann noch die Größe des Landes – mit einem viel kleineren Absatzmarkt als die Nachbarländer hätten belgische Supermarktketten eine deutlich schwächere Verhandlungsposition gegenüber den Herstellern.
All das sind Faktoren, an denen sich, zumindest kurzfristig, wenig ändern lässt, räumt die Retailexpertin ein. Es gebe aber auch noch eine andere naheliegende Stellschraube. Die Mehrwertsteuer sei in Belgien bei vielen Produkten höher als die im Ausland, erinnert Breugelmans.
Boris Schmidt