Rund 35.000 Demonstranten waren es, die gestern durch die Straßen der Hauptstadt marschiert sind. Doch welchen Wert hat diese Demonstration? Welche sind die möglichen politischen Folgen? Beobachter hatten im Vorfeld der Kundgebung kritisiert, die Botschaft sei zu simpel, um nicht zu sagen naiv. Das mag theoretisch vielleicht stimmen, die Demonstranten haben aber die Kritiker durch ihre aufrechte und erwachsene Haltung eines Besseren belehrt ...
Generation Facebook hat nun auch in Belgien ihre gesellschaftliche Feuerprobe bestanden. 35.000 Menschen zu mobilisieren, womöglich waren es deutlich mehr, das will schon etwas heißen. Zumal, wenn man keine Gewerkschaft oder keine Studentenvereinigung im Rücken hat.
Und es war auch vor allem Generation Facebook, die da durch die Straßen der Hauptstadt marschiert ist. Nicht ausschließlich, klar. Doch gemessen an ihrem Ruf, nämlich apathisch, apolitisch, hedonistisch und rein konsumorientiert zu sein, waren es doch bemerkenswert viele junge Menschen, die sich aufgerafft hatten, um zu demonstrieren. Denn – im Gegensatz zu ihren Vätern, die gegen NATO-Doppelbeschluss und Waldsterben regelmäßig auf die Straße gingen - sind die unter 40-jährigen heutzutage erwiesenermaßen eher schwer zu mobilisieren.
Doch mobilisiert wofür, fragten sich im Vorfeld der Kundgebung bereits schon anerkannte politische Beobachter. Mobilisiert im Namen einer Botschaft, die nach deren Ansicht zu vage, naiv bis hin zu populistisch war.
Zwei Lesarten
Damit tut man der Kundgebung unrecht. Es gibt nämlich nicht eine, sondern mindestens zwei mögliche Lesarten. Die eine ist die rein realpolitische. Und aus dieser Sicht ist die Forderung, jetzt doch bitte schön endlich mal eine Regierung zu bilden, tatsächlich grenzenlos naiv. Man unterstellt dabei zunächst, dass die Politiker eben genau dieses Ziel nicht verfolgen, also keine Einigung anstreben. Und damit tut man ihnen unrecht. Das Gegenteil ist richtig: Jeder versucht eigentlich nur, das Beste für seine jeweilige Sprachgruppe herauszuholen.
Denn man darf eins wirklich nicht vergessen: Wenn sie kommt, dann wird es die größte Staatsreform sein, die das Land je gesehen hat, eine veritable kopernikanische Revolution. Wer da nicht aufpasst, für den kanns teuer werden. Sehr teuer. Und wer will schon vor seine jeweiligen Wähler treten, wenn die den Eindruck haben müssen, sie seien von ihren Vertretern am Verhandlungstisch leichtfertig oder wissentlich verkauft worden.
Hinzu kommt: es ist erwiesenermaßen das Wahlergebnis, das die Rue de la Loi in dieses viel zu enge Korsett gesteckt hat: Mit N-VA und PS haben zwei Parteien die Wahl gewonnen, die sich zusammen wie Feuer und Wasser verhalten. Von Anfang an war klar: Eigentlich kann das nicht funktionieren. Aus all dem allerdings zu schließen, die Spaltung wäre der Weisheit letzter Schluss, ist, mit Verlaub, noch naiver.
Das Recht auf Meinungsäußerung
Aber gut: Da gibt es also zum einen die realpolitischen Tatsachen. Doch ist das jetzt gleich ein Grund, der Straße jegliches Mitspracherecht abzusprechen? Nein! Und das ist die zweite, die – nennen wir sie mal idealpolitische - Lesart, die da lautet: Muss man sich erst qualifizieren, bevor man seinen Unmut zum Ausdruck bringt? Darf man denn nicht mehr eine Meinung äußern, ohne gleich den Nachweis zu erbringen, die innenpolitische Gemengelage zu kennen und zu verstehen? Dürfen nur noch Politiker, Leitartikler und Politikwissenschaftler mitreden?
Was ist denn so falsch daran, wenn die Bürger sich nach 225 Tagen des politischen Stillstands Fragen stellen?
Denn es beschränkte sich exakt darauf. Krachschläger, Poujadisten oder Anarchisten waren eindeutig eine kleine Minderheit. Es waren "Leute wie du und ich", denen es ganz einfach nur am Herzen lag, einmal ihre Sorgen zum Ausdruck zu bringen. Sorgen über die Zukunft des Landes. Sorgen um ihre eigene Zukunft. Das Ganze in Würde und Besonnenheit, ohne aufgeregtes Gekreische, ohne wüstes Getrommel, ohne plakative Aufrufe zur Politiker-Hatz.
Demokratie in Reinform
Ist das naiv, politisch weltfremd oder gar populistisch? Nein, das ist Demokratie in Reinform! Man möchte fast sagen: erfrischend jungfräulich. Und jeder, der das belächelt oder als naiv abtut, der übt sich allenfalls in Arroganz, der besiegelt eigentlich nur den Bruch zwischen der Politik und dem Bürger. Was für ein Armutszeugnis, wenn man dem Wahlvolk die Legitimität abspricht, seine Meinung auch mal außerhalb von Wahlen zu äußern. Zumal, wenn die Menschen es auf so aufgeräumte und integere Art und Weise tun.
Und selbst der Insider, der angebliche Profi muss doch zugeben: Streng genommen haben die Bürger doch in allen Belangen Recht. Wenn denn noch verhandelt würde, dann könnte man ja sagen, der Bürger solle sich gedulden. Stattdessen ist aber längst offensichtlich, dass in der Rue de la Loi nur noch taktiert wird, dass es nur noch darum geht, dem jeweils anderen den Schwarzen Peter unterzujubeln.
Das sollte denn auch – wenn man schon eine Lehre aus der Demo ziehen will - die Botschaft sein: Liebe Politiker! Klar müsst Ihr die Probleme lösen, klar ist das schwierig, und sicher: Die Gemengelage ist – vorsichtig ausgedrückt - unglücklich. Aber hört zumindest auf, Spielchen zu spielen.
Genau so lautete denn auch sinngemäß das Fazit der fünf Veranstalter.
Hut ab!
Ohnehin: Hut ab vor diesen jungen Männern, die zwischenzeitlich von der Welle, die sie losgetreten hatten, selbst überrollt zu werden drohten. Mit dem enormen Medieninteresse kam nämlich dann auch die Verantwortung, die plötzlich viel schwerer wog, als es den fünf Studenten wohl lieb war. Mit einem Mal wurde ihre Initiative dermaßen kritisch durchleuchtet, als handele es sich um ein neues Regierungsabkommen. Man warf ihnen gar vor, das Misstrauen der Märkte auf Belgien zu ziehen.
Sie sind bis zuletzt mit erstaunlicher Souveränität und fast kindlichem Enthusiasmus mit der Sache umgegangen. Und sie haben vor allem eins geschafft: Sie haben verhindert, dass ein rein emotional begründeter Aufschrei genau dazu verkommt, haben vielmehr dafür gesorgt, dass er in vernünftige Bahnen gelenkt wird. Damit haben sie den Bürgerprotest als solchen geadelt. Nach dem Motto: das Volk ist zu mehr in der Lage, als nur undifferenziert auf Politiker einzuprügeln. Zumindest diesmal gilt ganz klar: "Vox populi, vox dei".
Roger Pint - Bild: belga