Es scheint sich zu bestätigen, was Beobachter und Medien schon seit langem vermutet haben: Die geplante große Steuerreform, die Belgien in den Augen von vielen so dringend benötigt, wird mit der aktuellen Vivaldi-Koalition nicht gelingen.
Am Sonntag ließ der Vorsitzende der flämischen Sozialisten, Conner Rousseau, das im flämischen Privatfernsehen erstmals öffentlich anklingen. Es sei sinnvoller, von vornherein die angestrebte Steuerentlastung nicht mit sechs Milliarden Euro zu beziffern. Ein niedrigerer Betrag sei besser, sagte Rousseau.
Und plötzlich sprechen alle genau diese Sprache: Alle oder zumindest die drei Mitglieder des Kernkabinetts, die am Montagvormittag bei ihrer Ankunft am Sitz des Premierministers der VRT etwas zu den laufenden Gesprächen über die Steuerreform ins Mikrofon sagen wollten.
Das war zunächst Pierre-Yves Dermagne, Wirtschafts- und Arbeitsminister von der PS. "Wir sind ein Jahr vor den Wahlen", sagte er. "Da ist es schwer, eine Steuerreform von einem Volumen von sechs oder sieben Milliarden Euro zu verabschieden. Oder?"
Realismus
Sozial- und Gesundheitsminister Frank Vandenbroucke von Vooruit tat sogar so, als ob die flämischen Sozialisten nie etwas anderes gesagt hätten. Er zog den Vergleich mit einem Leichtathleten beim Hochsprung. Wenn die Latte von vornherein so hoch gelegt werde, dass man sowieso nur unter ihr herspringen könne, wäre es doch besser, die Latte niedriger zu legen, sprich: weniger zu versprechen, dafür aber realistischer zu sein. Das hätten die Sozialisten in den vergangenen Wochen immer schon gesagt.
Und auch OpenVLD Justizminiser Vincent Van Quickenborne, mit dem Vandenbroucke vor rund zwei Wochen im Kernkabinett physisch aneinander geraten sein soll, gab ebenfalls zu Protokoll: Zwei Milliarden Euro, das habe er immer schon so gesagt. Mittlerweile seien auch die anderen damit einverstanden, es herrsche fast schon Konsens.
Damit scheint nichts mehr übrig zu sein von den ehrgeizigen Zielen von CD&V Finanzminister Vincent Van Peteghem. Der hatte Pläne vorgelegt, die eine Steuerentlastung von rund sechs Milliarden Euro hätten bringen sollen. Eben eine große Steuerreform. Schon gescheitert, weil die Kollegen aus den anderen Vivaldi-Parteien wohl nicht mitziehen wollen.
Oder auch nicht können, weil es zu viele unterschiedliche Vorstellungen gibt, wie die Entlastungen erreicht werden sollen. Da gibt es rote Linien wie die von der MR, Spareinlagen höher zu belasten. Das ginge auf keinen Fall, sagte am Wochenende MR-Vorsitzender Georges-Louis Bouchez. Höhere Abgaben von reichen Menschen können sich hingegen die Sozialisten gut vorstellen. Wobei zumindest den flämischen Sozialisten laut Vandenbroucke vor allem wichtig ist, dass gerade Geringverdiener neue Steuervorteile bekommen.
Stichtag 21. Juli
Und für Van Quickenborne ist es wichtig, die Steuerreform zu koppeln an Arbeitsmarktreformen. Zum Beispiel sollten die Möglichkeiten für Flexi-Jobs ausgeweitet werden, weil das ein System sei, das sehr gut funktioniere.
Fazit vor der letzten Verhandlungsrunde: Die Ambitionen für die Steuerreform wurden mittlerweile zurückgeschraubt, das Wunschkonzert der Parteien bleibt weiter vielstimmig.
Doch alles sei auf einem guten Wege. Behauptet zumindest Van Quickenborne: "Wir haben am Sonntag gute bilaterale Gespräche geführt", sagte er am Montag. "Wir kennen jetzt die roten Linien der Parteien, wir wissen jetzt, was sie wollen. Aber deshalb jetzt zu sagen, dass die Entscheidung bis Montagabend fallen wird, ist ein Trugschluss. Das Ziel bleibt, bis zum 21. Juli eine Einigung zu erzielen."
Kay Wagner