Trennen sich Paare im hohen Alter beziehungsweise nachdem sie schon lange miteinander verheiratet waren, dann ist oft die Rede von sogenannten "grauen Scheidungen". Ein Phänomen, das in den vergangenen Jahren – mit Ausnahme des Corona-Jahres 2020 – stetig und stark zugenommen hat.
Bei den über 65-Jährigen war zwischen 2012 und 2021 eine Zunahme der Scheidungen um 46 Prozent zu verzeichnen. Betrachtet man nur die über 75-Jährigen, so waren es immer noch rund 36 Prozent mehr Scheidungen. Und selbst bei den über 80-Jährigen ist diese Tendenz so unbestreitbar wie erstaunlich: Im Vergleich zu 2016 ließen sich 2021 in dieser Altersgruppe fast 52 Prozent mehr scheiden.
Typisches Muster
Aber was treibt Menschen zu einem so drastischen Schritt? Nachdem sie ja zuvor viele Jahre miteinander verbracht haben? Dafür gibt es natürlich viele mögliche Gründe und jeder Fall ist sicher anders. Dennoch kann man, zumindest nach Meinung von Experten, einige typische Muster definieren.
Da gibt es zunächst einmal einen rein statistischen beziehungsweise demographischen Faktor, wie Paartherapeutin Rika Ponnet gegenüber der VRT erklärte: Diese Altersgruppe, die sogenannten "Babyboomer", stellt zahlentechnisch eine sehr große Generation dar. Das spiegelt sich logischerweise dann auch in der Anzahl der Scheidungen wider.
Neue Werte und Vorstellungen
Dann hat sich natürlich auch die Gesellschaft enorm verändert in den letzten Jahrzehnten – und zwar in vielerlei Hinsicht. Zum Beispiel haben sich unsere Werte und Moralvorstellungen gewandelt: Von der Vorstellung, dass eine Heirat für immer sei, sei heutzutage fast nichts mehr übriggeblieben.
Dabei spiele auch die Lebensweise der jüngeren Generationen eine Rolle, also der Kinder und Enkelkinder. Wenn diese sich trennten und scheiden ließen und neue Partner fänden, dann könne das die ältere Generation durchaus auch dazu anregen, über ihre eigene Lebenssituation nachzudenken und darüber, was noch vor ihnen liege.
Noch bleibende Jahre voll genießen
Auch handele es sich bei dieser Altersgruppe um die erste Generation, in der Frauen oft in Vollzeit gearbeitet und sich damit ein eigenes finanzielles Polster geschaffen hätten. Das gebe ihnen heute die Freiheit und Möglichkeit, so einen Schritt zu unternehmen. Denn sehr oft seien es eben Frauen, die in puncto Scheidung die Initiative ergriffen.
Ein weiter wichtiger Faktor sei, dass sich die Perspektiven der Menschen bezüglich Alter und Gesundheit nach der Pensionierung deutlich verbessert hätten. Das verändere auch die Sichtweise auf die Zukunft: Die Menschen wollten ein qualitativ hochwertiges Leben, sie wollten die ihnen noch bleibenden Jahre voll genießen beziehungsweise sich nicht mit Missständen abfinden.
"Leeres-Nest-Syndrom"
Lebensqualität sei den Menschen heute wichtiger als früher. Und man habe eben auch die finanziellen Mittel dafür. Diese Mehr-Beschäftigung mit sich selbst kann auch noch durch einen anderen Faktor begünstigt werden: Oft ist es so, dass eine ganz entscheidende "Ablenkung" weggefallen ist. Die Therapeutin Marie Baerten spricht hier vom "Empty-Nest-Syndrom", also dem "Leeres-Nest-Syndrom". Seien die Kinder einmal aus dem Haus, dann könnten die Menschen wieder Entscheidungen für sich selbst treffen und an sich denken.
Das kann man auch anders formulieren: Sind die Kinder aus dem Haus und der Partner oder man selbst pensioniert, dann führt das dazu, dass man viel mehr Zeit als bisher miteinander verbringt beziehungsweise verbringen muss. Ein Übergang, der zu Spannungen führen oder bereits bestehende Spannungen verschärfen kann.
Früher seien Beziehungen natürlich auch nicht wirklich besser gewesen, erinnert Ponnet. Aber heute sei man eben eher bereit, einen Schlussstrich zu ziehen. Frei nach dem Motto: Lieber glücklich oder zumindest ruhig allein leben als täglich unter Spannungen mit dem Partner leiden, so die Paartherapeutin.
Boris Schmidt