Die Tragödie im Antwerpener Stadtteil Merksem ist, so zynisch das auch klingen mag, nur die jüngste Episode der eskalierenden Drogengewalt in der Scheldestadt. Der Tod des Mädchens scheint auch keine abschreckende Wirkung auf die Szene gehabt zu haben. Am Wochenende kam es beispielsweise in Maasmechelen in der Provinz Limburg wieder zu Angriffen auf Wohnungen, bei denen Spreng- beziehungsweise Feuerwerkskörper eingesetzt wurden.
Antwerpens Bürgermeister Bart De Wever hatte nach dem tödlichen Anschlag in Merksem ja den Einsatz der Armee gefordert. Dieser Vorstoß war aber abgeschmettert worden, Premier Alexander De Croo warnte in diesem Zusammenhang vor einer "Politik der Facebook-Likes", also populistischen Rufen nach einer Politik der harten Hand. Am Wochenende war er es dann aber selbst, der die Bildung eines "Hafenkorps" innerhalb der Polizei forderte, um den riesigen Antwerpener Hafen besser zu kontrollieren. Woraufhin ihm De Wever zynisch die schon jetzt chronische Unterbesetzung der Sicherheitskräfte unter die Nase rieb.
Innenministerin Annelies Verlinden will derweil einen "nationalen Drogen-Kommissar" einsetzen - ein Vorstoß, der ebenfalls mit viel Spott und Hohn begrüßt wurde. Und schließlich wollte sich auch Justizminister Vincent Van Quickenborne nicht lumpen lassen, der ja selbst mitsamt seiner Familie schon im Fadenkreuz der Drogenmafia stand beziehungsweise steht. Er wolle die Geldbußen für den Konsum von harten Drogen wie Kokain auf bis zu 1.000 Euro erhöhen, so Van Quickenborne in der VRT-Sendung "De zevende dag". Bislang beträgt die Strafe 75 bis 150 Euro. Außerdem will er eine starke Ausweitung der Kontrollen auf Drogenkonsum und -besitz.
Die Drogenkonsumenten werden aber auch von der Bevölkerung aufs Korn genommen, zumindest legt das eine Umfrage der Zeitung Gazet van Antwerpen nahe. Demnach machen acht von zehn Antwerpenern Kokainkonsumenten mitverantwortlich für die Gewalt. 72 Prozent der Befragten finden, dass der Besitz von Drogen schwerer bestraft werden muss.
Solche Forderungen stoßen aber nicht überall auf Zustimmung. Steven Debbaut ist Kriminologe und Wissenschaftler an der Universität Gent. Er ist aber auch Sprecher der Bürgerbewegung "SMART on drugs". Diese Gruppierung setzt sich seit 2018 für die Legalisierung von Drogen ein.
Das gehe in Richtung Symbolpolitik, so Debbaut im Interview mit Radio Eén. Es sei seiner Meinung nach keine gute Richtung, die der Justizminister da vorgebe, denn dem Konsumenten die Schuld zu geben, lenke eigentlich nur vom Problem an sich ab und von einer versagenden Drogenpolitik. Gewalt gebe es, weil bestimmte Drogen illegal seien, so Debbaut. Bei legalen Drogen wie etwa Tabak und Alkohol sehe man solche Phänomene schließlich nicht.
Bestrafung sei für ihn aus grundsätzlichen, aber auch aus praktischen Gründen keine gute Herangehensweise an die Drogenproblematik. Aus internationalen Erfahrungen und Studien wisse man, dass Repression weder die Nachfrage nach Drogen spürbar zurückgehen lasse noch das Angebot. Und selbst wenn man den Drogenkonsum in Belgien etwas senken könnte, werde das an der Gewalt in Antwerpen wohl wenig ändern - der Hafen sei schließlich das Einfallstor für Kokain nach ganz Europa.
Man müsse vielmehr den staatlichen Umgang mit Drogen grundsätzlich ändern, nicht nur national, sondern international: weg von Bestrafung, hin zu Dekriminalisierung und Regulierung. Der illegale Drogenmarkt müsse durch legale, konkurrenzfähige Angebote ausgetrocknet werden. Dann könnten all die Mittel statt in Polizei und Justiz in andere Bereiche investiert werden, nämlich in Prävention, Hilfsangebote und Aufklärung. Das sei seiner Meinung der richtige Weg, um gegen Drogen und Abhängigkeit zu kämpfen.
Allerdings sieht der Kriminologe aktuell wenig Raum für seine Vorschläge: Es sei vor allem politischer Unwille, der einer Regulierung von Drogen im Wege stehe, so Debbaut.
Boris Schmidt