Die VRT hat die Note von Vande Lanotte also einsehen können. Mehr noch. Wie man hört, verfügen die Kollegen eigentlich sogar über den vollständigen Text.
Es mag vielleicht aus Rücksicht auf das Verhandlungsklima sein - jedenfalls hat sich die flämische Rundfunk- und Fernsehanstalt dazu entschlossen, nur die Schwerpunkte zu veröffentlichen. Konkret: eine ganze Liste von Punkten und Unterpunkten, die das Korsett der ominösen Note ausmachen.
Das ist viel. Viel, aber nach dem derzeitigen Stand der Dinge nicht genug, um sich wirklich ein Bild zu machen.
25 Prozent der Einkommensteuer für die Regionen
Beispiel: Die Regionen sollen rund ein Viertel der Einkommensteuer künftig selbst erheben und eintreiben. Dies entspreche einem Gesamtvolumen von 15 Milliarden Euro. Bemerkenswert dabei: der von den Regionen erhobene Anteil soll ausdrücklich auf der Steuererklärung vermerkt sei - wohl damit der Bürger sieht, wem er eine mögliche Steuersenkung zu verdanken hat.
Offen bleibt dabei aber: Wie löst Vande Lanotte die Quadratur des Kreises? Der flämische Forderung nach einer Erhöhung der finanziellen Eigenverantwortung steht die von den Frankophonen verlangte Schutzklausel, wonach niemand unterm Strich ärmer sein darf als vorher, gegenüber.
Beides zusammen ist unmöglich, zumindest wenn man beide Forderungen als unverrückbar betrachtet. Wenn der eine schwarz sagt, und der andere weiß, und jeder dabei bleibt, dann wird das nichts mit dem neuen Anstrich. Es sei denn, man einigt sich auf grau. Ob und wie Vande Lanotte hier den Mittelweg gefunden hat, bleibt - zumindest nach dem derzeitigen Stand der Dinge - weiter offen.
Immerhin erlauben die von der VRT veröffentlichten großen Kapitel zumindest einen Schluss: Es würde eine große Staatsreform, die jeder (auch die N-VA) 2007 noch mit Kusshand unterschrieben hätte.
Senat, Kompetenzen, BHV, Brüssel-Hauptstadt
Eine Reform der politischen Institutionen ist vorgesehen: Der Senat soll in seiner derzeitigen Form abgeschafft und zu dem werden, was er längst sein sollte: zu einer Länderkammer, vielleicht nach Vorbild des deutschen Bundesrats. Gewählt wird künftig alle fünf Jahre, und zwar für alle Parlamente gleichzeitig.
Über die Übertragung neuer Zuständigkeiten vom Föderalstaat an die Gemeinschaften und Regionen (zum Beispiel: Kindergeld und Arbeitsmarktpolitik) gab es schon seit längerem mehr oder weniger Konsens. Bemerkenswert hier: Es soll künftig regionale Justizminister geben, die aber nur beschränkte Befugnisse hätten - also keine vollständige Regionalisierung der Justiz.
Zum leidigen Dauerbrennerthema BHV heißt es, der Wahlkreis werde aufgespalten und einzig die Bewohner der sechs Randgemeinden mit Spracherleichterungen bekämen weiter die Möglichkeit, in Brüssel ihre Stimme abzugeben. Eine Neufinanzierung von Brüssel, wie von den Frankophonen gefordert, sei ebenfalls vorgesehen. Die Region Brüssel-Hauptstadt soll einen finanziellen Ausgleich erhalten, einmal für die Pendler, die zwar in Brüssel arbeiten, aber nicht dort wohnen, und zum anderen auch für die vielen Beamten internationaler Einrichtungen.
Bedeutend für die Zukunft
Diese Liste ist naturgemäß noch empfindlich länger. Und bekanntlich steckt der Teufel im Detail. Vande Lanotte hätte das Ganze nicht auf 62 Seiten niederschreiben müssen, wenn es auch auf zwei gepasst hätte. Bis spätestens morgen sollen ja die sieben beteiligten Parteien entscheiden, ob sie die Note als Gesprächsgrundlage akzeptieren. Oder eben nicht.
Allein das Inhaltsverzeichnis zeigt aber schon, wie wichtig dieser Text ist und auch in Zukunft noch sein wird. Und zwar gleich wie es kommt. Vande Lanotte hat all das zu Papier gebracht, was in den letzten sechs Monaten besprochen, angedacht, diskutiert wurde. Denn - man mag es vielleicht nicht glauben - aber die vergangenen über 200 Tage waren bestimmt nicht vollends umsonst.
Lange nicht mehr haben die Techniker der Parteien sich einen so tiefen und detaillierten Einblick in die Mechanik des Staatsgefüges verschaffen müssen, lange nicht mehr hat man so intensiv Forderungen und Lösungsansätze miteinander konfrontiert. Die Vande-Lanotte-Note ist auf den ersten Blick die Synthese dieser Arbeit.
Eine Synthese, mehr aber nicht - zumindest noch nicht. Ob die Note am Ende auch als Fundament für eine neue Staatsreform taugt, das entscheidet nicht mehr deren Autor, sondern die Adressaten. Und die müssen ja, wie gesagt, erstmal den Text überhaupt als Gesprächsgrundlage akzeptieren.
vrt/rop - Archivbild belga