Dass vietnamesische Migranten in großem Stil über Belgien geschmuggelt werden, ist allerspätestens seit Oktober 2019 bekannt. Damals waren in einem Lkw-Kühlanhänger im britischen Essex 39 Leichen vietnamesischer Staatsbürger entdeckt worden. Der Anhänger war per Schiff aus dem belgischen Hafen von Zeebrugge gekommen. Ein furchtbares Drama, das weltweit Schlagzeilen gemacht hat - auch im Heimatland dieser Migranten natürlich.
Eine abschreckende Wirkung auf potenzielle Nachahmer hatte es aber offenbar nicht, räumte Myria-Direktor Koen Dewulf am Mittwochmorgen bei Radio Eén ein. Das Drama von Essex habe eigentlich kaum Auswirkungen auf das Geschäftsmodell der Schleuser gehabt, so Dewulf. Die Botschaft, die die Menschenschmuggler seitdem verbreiteten, sei, dass diese Menschen eben Pech gehabt hätten, dass sie sich eben für das falsche Schmuggler-Netzwerk entschieden hätten. Das gehe sogar soweit, dass andere Netzwerke das Drama als perversen Vorwand genommen hätten, um ihre Preise ganz kräftig anzuheben, um 5.000 bis 10.000 Euro pro Person. Frei nach dem Motto: Wählen Sie uns für eine bessere Chance, das Vereinigte Königreich lebend zu erreichen.
Diese laut Aussage von Myria "skrupellosen Schmuggler" hätten sich angepasst und seien mittlerweile sogar noch stärker und besser organisiert und aktiver. Sie seien in der Lage, Hunderte Transporte von meist Deutschland aus über Belgien und die Niederlande zu organisieren. Die Hauptdrehkreuze für die Vietnamesen seien zunächst Prag, Warschau und Berlin. Aber auch Brüssel beziehungsweise Belgien dienten eben als Drehscheibe. Diese Migranten würden hierzulande von Schmugglernetzwerken kontrolliert und festgehalten. Sie seien meist quasi unsichtbar, weil sie in sicheren, geheimen Unterschlüpfen untergebracht würden, sogenannten "safe houses".
So eine Schleusung ist auch sehr teuer. 20.000 bis 30.000 Euro müssten ihre Familien oft bezahlen, enorme Beträge für oft eigentlich aus ärmlichen Verhältnissen stammende Menschen. Diese "Schulden" müssten bei den Schmugglern dann im wahrsten Sinne des Wortes "abgearbeitet" werden. Bis das geschehen sei, würden die Migranten festgehalten, erst danach würde die Schleusung an die Endbestimmung, meist Großbritannien, fortgesetzt.
Man wisse nicht wirklich, um wie viele Menschen es gehe, da nur sehr wenige von ihnen aufgespürt werden könnten oder gar selbstständig bei den Behörden um Hilfe bitten würden. Angst und Scham spiele dabei oft eine große Rolle, aber auch kulturelle Besonderheiten der vietnamesischen Gemeinschaft. Für den Staat würden sie eigentlich meist erst bei Kontrollen an ihren Zwangsarbeitsplätzen sichtbar, so Dewulf. Dabei gebe es bestimmte Risikosektoren, in denen diese Menschen besonders häufig tätig seien, etwa Nagelsalons, im Horeca-Sektor oder auch in kleinen Geschäften. Manche würden auch sexuell ausgebeutet. Wenn Vietnamesen ohne gültige Aufenthaltserlaubnis und Papiere in solchen Umständen angetroffen würden, dann müssten immer die Alarmglocken losgehen. Denn fast immer handele es sich dabei um Opfer von Menschenhandel.
Man hoffe natürlich, dass nach und nach auch in Vietnam selbst für diese Ausbeutung und Schicksale sensibilisiert werde. Noch sei das aber nicht ausreichend der Fall. Deswegen plädiert das Föderale Zentrum für Migration auch dafür, dass die zuständigen Stellen hierzulande alles tun, damit sich ihnen solche Opfer anvertrauen - nicht nur, um Schutz vor den Schleusern zu erhalten, sondern auch, um durch ihre Insiderkenntnisse den Kampf gegen diese Netzwerke zu unterstützen.
Boris Schmidt