Der zeitliche Zusammenhang ist mehr als naheliegend: Seit Beginn der Corona-Pandemie ist der Verkauf nicht verschreibungspflichtiger Schlafmittel in Belgien in die Höhe geschnellt. Allein im letzten Jahr sind 1.230.000 Dosen über die Apothekentische gegangen. Wert: über 23 Millionen Euro. Betrachtet man die Entwicklung seit dem Beginn der Gesundheitskrise, also über die letzten zwei Jahre, dann hat sich der Umsatz mit den rezeptfreien Mitteln um satte 44 Prozent gesteigert.
Daneben gibt es noch den Markt für die verschreibungspflichtigen. Hier geht es um sechs Millionen Dosen pro Jahr, mit einem Wert von 65 Millionen Euro. Deren Verbrauch ist mehr oder minder stabil geblieben, aber eben auf einem sehr hohen Niveau.
Die Zunahme bei den rezeptfreien Schlafmitteln seit Beginn der Pandemie überrascht Inge Declercq nicht. Sie ist Schlafforscherin am Universitätskrankenhaus Antwerpen. Die Zahl der Menschen, die unter Schlaflosigkeit litten, habe stark zugenommen in diesem Zeitraum, bestätigte sie in der VRT.
Die unterschwelligen Angstgefühle, chronischer Stress und nicht zuletzt das viele Sitzen, weil wir oft von zu Hause aus arbeiteten, all das spiele eine Rolle, so Declercq. Der Biorhythmus, die innere biologische Uhr vieler Menschen sei durch die Pandemie vollkommen durcheinander geraten – und das wirke sich automatisch auf den Schlaf aus, etwa in der Form von Schlaflosigkeit aber auch von anderen Störungen wie Albträumen.
Rezeptfreie Schlafmittel seien in Belgien sehr leicht erhältlich, vielleicht sogar zu leicht. In vielen Apotheken würden sie beworben und prominent platziert, da griffen Menschen mit entsprechenden Problemen schnell zu.
Was in den rezeptfreien Mitteln genau drin ist, hängt vom jeweiligen Präparat ab. Aber fast alle enthalten Melatonin. Das wird auch oft als "Schlafhormon" bezeichnet. Daneben sind auch oft Lavendel, Baldrian oder Passionsblumen enthalten, Substanzen, die stresshemmend und angstlösend wirken sollen. Dazu je nachdem noch andere Zusätze wie etwa Vitamine. Im Schlaf-Kontext geht es aber vor allem um besagtes Melatonin.
Melatonin ist ein Hormon, das der Körper normalerweise selbst herstellt, in der Zirbeldrüse im Gehirn. Das Hormon steuert unsere innere Uhr, sagt uns also, wann es Zeit zum Schlafen oder Wachsein ist. Die Drüse wird vom Sonnenlicht gesteuert, genauer gesagt beginnt sie die Produktion und Freisetzung des Hormons im Körper, wenn es dunkel geworden ist.
Die rezeptfreien Schlafmittel enthalten also Melatonin, weil das mit dem Schlafen helfen soll. Aber wirkt dieses von außen zugeführte Hormon auch so? Nein, eigentlich tut es das nicht, so die Antwort der Schlafexpertin. Und es löse schon gar nicht die eigentlichen Ursachen der Probleme.
Sie verstehe ja die Motivation der Menschen. Sie wollten einfach schlafen, auch weil das so wichtig sei, um "funktionieren" zu können. Dann würden sie in der Hoffnung auf ein Wundermittel zu solchen Tabletten greifen. Aber so einfache Lösungen gebe es nicht, man könne keinen Schlaf in der Packung kaufen. Wenn Menschen meinten, sie schliefen durch solche Mittel besser, dann spiele der Placebo-Effekt eine große Rolle: Wer glaube, dass er durch die Einnahme einer Pille besser schlafe, der tue das oft auch. Aber dieser Effekt sei selten von Dauer, und darin liege dann eine Gefahr.
Wenn die Menschen nämlich mit der Melatonin-Dosis experimentierten und sich nicht an die Vorgaben hielten, dann könne das negative Folgen haben. Es gebe etwa Hinweise, dass dadurch die körpereigene Melatoninproduktion gestört werden könne. Oder dass durch zu viel Melatonin im Blut zur falschen Zeit der Biorhythmus weiter entgleise.
Es gibt aber auch noch eine weitere Gefahr: Menschen, die bereits anfällig seien und aufgrund von Stress schlecht schliefen, würden nach der Verwendung rezeptfreier Mittel schneller nach verschreibungspflichtigen verlangen. Die Hemmschwelle werde also gesenkt, diese schneller abhängig machenden und damit gefährlicheren Mittel zu nehmen.
Die beste Methode für einen besseren Schlaf sei also die Stimulation der körpereigenen Produktion von Melatonin, so Declercq. Die werde ja durch helles Licht gesteuert. Deswegen sollten Menschen sich jeden Tag mindestens zwei Mal für jeweils 30 Minuten im Freien bewegen. Das helfe nicht nur dem Schlaf, sondern auch der mentalen Gesundheit. Außerdem sei es auch wichtig, abends mindestens zwei Stunden vor dem Zubettgehen die Helligkeit des Lichts zu reduzieren. So erhalte das Gehirn die notwendigen Signale, um in puncto Melatonin zum richtigen Zeitpunkt zu schalten.
Boris Schmidt