Vandenbrouckes Reich der Freiheit
"Wenn das klappt, dann kommt das 'Reich der Freiheit' in Sicht". "Reich der Freiheit" - diesen Begriff hatte Gesundheitsminister Frank Vandenbroucke in den ersten Tagen des Jahres geprägt. "Reich der Freiheit" - dieses geflügelte Wort steht symbolisch für die Hoffnung, die im ersten Halbjahr vorherrschte, und für die Ernüchterung, die sich im zweiten Halbjahr breit gemacht hat.
2021 beginnt, wie 2020 aufgehört hatte. Die zweite Welle hat Belgien nach wie vor fest im Griff. Das Land befindet sich mehr oder weniger im Lockdown. Wobei: Es gibt einen Hoffnungsschimmer. Kurz vor Weihnachten kommt die gute Neuigkeit aus dem Mund von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen:
"Wir haben entschieden, den ersten Covid-19-Impfstoff für die EU zuzulassen", sagte von der Leyen am 21. Dezember 2021. Kurz vor Ende des Jahres wurden auch schon die ersten Spritzen gesetzt. Am 6. Januar erhält zudem das Präparat von Moderna die EU-Zulassung. Es kann losgehen! Und Gesundheitsminister Frank Vandenbroucke will Gas geben.
"Es dürfen keine Impfstoffdosen ungenutzt in den Gefrierschränken liegenbleiben", sagt Vandenbroucke. Alles, was Pfizer-Biontech liefern kann, soll auch umgehend verimpft werden, ohne die ursprünglich geplanten Reserven anzulegen. Als Belohnung winkt eben das "Reich der Freiheit"...
In diese Aufbruchsstimmung und den allgemeinen Optimismus platzen erschreckende Bilder aus Washington. Anhänger des noch amtierenden Präsidenten Donald Trump versuchen, das Kapitol - das Parlamentsgebäude - zu stürmen. Einigen gelingt es sogar. Nur mit knapper Not kann eine Katastrophe verhindert werden. Inzwischen gibt es immer mehr Hinweise darauf, dass es sich bei der Aktion tatsächlich um einen geplanten Putschversuch handelte.
Auch in Belgien reagiert man mit Bestürzung auf die Ereignisse. Für Premierminister Alexander De Croo ist klar, wer dafür verantwortlich ist: Es war Donald Trump, der seine Anhänger zu der Erstürmung des Kapitols angestachelt hatte. Und der Premierminister warnt noch einmal eindringlich vor den Gefahren, die von Desinformation, Fake News und Hassrede ausgehen. Desinformation - auch ein Thema, das 2021 durchzieht wie ein roter Faden...
Geschlossene Cafés und Frisörsalons
Die epidemiologische Lage verbessert sich derweil nicht. Entsprechend gelten in diesen Januartagen strenge Corona-Beschränkungen. Die Horeca-Betriebe etwa sind zu. Im Süden des Landes gilt zudem eine nächtliche Ausgangssperre. Es wird weiter von nicht notwendigen Reisen dringend abgeraten. Homeoffice bleibt die Regel. Und die sogenannten "nicht-medizinischen Kontaktberufe", also Frisör- oder Schönheitssalons, dürfen ebenfalls nicht arbeiten.
Von Lockerungen ist erstmal keine Rede. Eher im Gegenteil. Denn es machen erste Informationen über neue Coronavirus-Varianten die Runde. Erst ist von einer britischen Mutation die Rede, dann auch von einer südafrikanischen und später noch von einer brasilianischen. Die britische - heute bekannt als Alpha-Variante - sorgt schnell für mächtig Unruhe.
Ein Hauch von Panik. Am 22. Januar ergreift der Konzertierungsausschuss Gegenmaßnahmen: Die Reisebeschränkungen werden verschärft. Nicht notwendige Reisen ins Ausland und aus dem Ausland nach Belgien werden für einen Monat verboten. Dadurch soll die Ausbreitung insbesondere der neuen Coronavirus-Varianten in Belgien eingeschränkt werden. Man wisse nämlich, dass diese Varianten deutlich ansteckender seien, sagte Premierminister Alexander De Croo. Der kleine Grenzverkehr ist von der Regelung ausgenommen. Dennoch: Die EU ist wenig begeistert von der Maßnahme. Belgien muss sich vor der Kommission rechtfertigen.
Sand im Getriebe der Impfkampagne
Die Impfkampagne hat derweil mächtig Sand im Getriebe. Die Hersteller liefern nicht die erwarteten Mengen. Sabine Stordeur von der föderalen Impf-Taskforce ist sauer. So etwas wirke sich störend auf die allgemeine Organisation aus. Um eine möglichst komfortable Planung für alle sicherstellen zu können, müsse man einen Zwei-bis-drei-Wochen-Zeitraum überblicken können. Die häufigen Veränderungen mit wenig Vorwarnzeit führten dazu, dass man konstant umplanen müsse, so Stordeur.
Ende Januar gibt es dann aber wieder einen Lichtblick: Mit dem Präparat von Astrazeneca wird ein dritter Impfstoff zugelassen. Doch auch diese Perspektive erweist sich schnell als Strohfeuer. Denn auch Astrazeneca muss gleich einräumen, dass man seine Versprechen nicht halten kann.
Konkret können in den nächsten Wochen nur 40 Prozent der versprochenen Impfdosen geliefert werden. "Natürlich werden wir diese Impfdosen irgendwann bekommen. Nur, das ist nicht der Punkt", sagt Gesundheitsminister Frank Vandenbroucke. "Hier geht es allein um das Tempo der Lieferungen. Und das ist von wesentlicher Bedeutung. Wir hatten nämlich geplant, im Februar-März mit 1,5 Millionen Dosen von AstraZeneca zu starten und damit einen Gang höher zu schalten".
Hinzu kommt, dass für Astrazeneca erstmal Einschränkungen gelten. Weil man nicht über ausreichend Daten verfügt, soll der Impfstoff zunächst nur Menschen unter 55 Jahren verabreicht werden. Auch das schmeißt die bisherige Planung wieder über den Haufen. Denn: Man arbeitet ja nach Priorisierungsgruppen. Und in der ersten Phase sind neben dem medizinischen Personal und den Menschen mit Vorerkrankungen insbesondere die Senioren an der Reihe. Und denen kann Astrazeneca also erstmal nicht verabreicht werden. Einen Monat später wird diese Beschränkung aber aufgehoben.
In dieser Zeit steht Belgien quasi international im Fokus. Denn ein nicht unwesentlicher Teil der weltweit verabreichten Impfstoffe wird hierzulande hergestellt. Die Fabrik von Pfizer in Puurs bei Antwerpen gilt als eine der größten und modernsten ihrer Art. Darauf können wir stolz sein, sagte König Philippe beim Neujahrsempfang im Palast. Aber das bringe auch eine große Verantwortung mit sich: Die Welt verlasse sich auf Belgien.
Anfang Februar: Es gibt auch mal gute Neuigkeiten. Zwar hat sich die epidemiologische Lage nicht wesentlich verbessert. Dennoch beschließt der Konzertierungsausschuss erste nennenswerte Lockerungen: Die Friseursalons dürfen am 13. Februar wieder öffnen, sinnigerweise am Tag vor Valentinstag. Dies freilich unter strengen Auflagen, aber immerhin.
Das schürt natürlich Erwartungen. Aus allen betroffenen Sektoren kommen Forderungen nach Lockerungen. Lauthals. Nachdrücklich. Die Experten und auch die Föderalregierung geben sich aber sehr zurückhaltend. Denn: Die Zahlen steigen wieder. Alle wichtigen Parameter färben sich wieder rot. Ende Februar müssen schon wieder täglich 200 Covid-Patienten in Krankenhäuser aufgenommen werden. Beim Konzertierungsausschuss Ende Februar entscheidet die Regierung erstmal, nicht zu entscheiden.
"Wir haben bei diesem Konzertierungsausschuss nicht die Entscheidungen getroffen, die wir eigentlich treffen wollten", sagt De Croo sichtlich zerknirscht. Genau gesagt: Die Vertreter aller Regierungen des Landes haben gar keine Entscheidung getroffen. Natürlich sei er sich dessen bewusst, wie sehr die Menschen Lockerungen herbeisehnten, sagte Alexander De Croo. Nur erlebten wir gerade leider eben einen heiklen Moment. Jetzt zu lockern, wäre die falsche Entscheidung. "Während eines Sturms kann man nicht starten."
Denn, ja: Im Grunde ist die zweite Welle noch nicht ganz abgeebbt, da geht schon die Angst vor einer dritten um. Schuld sind die neuen Varianten. Schnell zeigt sich, dass Reisebeschränkungen oder dergleichen nicht verhindern können, dass die sich weiter ausbreiten.
Der einzige Weg, aus diesem Schlamassel herauszukommen, ist die Impfung. Da sind sich alle einig. Doch scheitert das nach wie vor an den Lieferengpässen der Hersteller. Die Kritik richtet sich aber auch an die EU. Es war die Europäische Kommission, die sich um die Impfstoffbestellungen gekümmert hatte. Zentralisiert, im Namen aller Mitgliedstaaten. Doch mehren sich die Vorwürfe, dass man die Verträge nicht verbindlich genug formuliert hatte. Sogar im traditionell EU-freundlichen Belgien rührt sich Kritik.
Die EU war bislang zu passiv, sagt Premierminister Alexander De Croo. Zu passiv in dem Sinne, dass es nicht reicht, Verträge auszuhandeln, um dann wie ein Notar abzuwarten, was passiert, fügt De Croo hinzu. Die EU verschärft den Ton gegenüber den Herstellern. Gegen Astrazeneca wird sogar ein Verfahren angestrengt.
Mord in Beveren - und ein Großerfolg für die belgische Polizei
Anfang März sorgt derweil ein grausames Verbrechen für Bestürzung. In Beveren bei Antwerpen wird ein 42-jähriger Mann ermordet. Die Ermittler gehen davon aus, dass der Mann vor allem deswegen getötet wurde, weil er homosexuell war. Verstörend ist auch das Alter der Tatverdächtigen: Es handelt sich um drei Minderjährige. Die sollen ihr Opfer buchstäblich in die Falle gelockt und danach misshandelt haben. Offenbar haben sie die Masche nicht zum ersten Mal abgezogen...
Homosexuellen-Verbände reagieren jedenfalls geschockt auf die Bluttat. Das sei mutmaßlich jetzt der zweite gezielte Mord an einem Homosexuellen in Belgien. Aber, das sei nur die traurige Spitze des Eisbergs, sagt Wim Raes von der Organisation Tiszo. Homophobie sei nach wie vor ein Riesenproblem. Nur tauche das nicht in den Kriminalstatistiken auf, "weil sehr viele Menschen sich einfach nicht trauen, Übergriffe anzuzeigen".
Ebenfalls Anfang März sorgt die belgische Polizei für einen Paukenschlag: Am 9. März rücken landesweit Hundertschaften von Polizisten zu einer Großrazzia aus. Insgesamt 1.500 Beamte sind im Einsatz. Zeitgleich durchsuchen Beamte mehr als 200 Gebäude und Wohnungen. Schwerpunkt ist vor allem die Region Antwerpen, aber auch der Großraum Brüssel. Doch wissen die Ermittler ziemlich genau, was sie wo suchen mussten. Denn auch die belgische Polizei hatte sich "eingeklinkt". Es war ihr gelungen, das Kommunikations-System der Kartelle zu knacken, nämlich die Chat-Applikation SKY ECC, die als abhörsicher und nicht zu entschlüsseln galt. Monatelang hat man mitgehört und mitgelesen.
Die Ausbeute kann sich jedenfalls sehen lassen: 17 Tonnen Kokain und über 1,2 Millionen Euro Bargeld werden beschlagnahmt, mindestens 15 illegale Waffen, darunter sechs Schusswaffen. Es gab über 40 Festnahmen, darunter auch Anwälte. Justizminister Vincent Van Quickenborne spricht von einem "historischen Tag im Kampf gegen das organisierte Verbrechen". Auch der Antwerpener Bürgermeister Bart De Wever jubelt. Seine Stadt hat ja ganz besonders mit den "Nebeneffekten" der Aktivitäten der Drogenschmuggler zu kämpfen. "Beispiellos!", sagt auch Innenministerin Annelies Verlinden. Selbst im Ausland habe man nie einen solchen Fang gemacht.
Die Polizei- und Justizbehörden "leben" heute noch von dem Erfolg. In diesem Jahr wurden mehr als 30 Razzien im Drogenmilieu durchgeführt. Insgesamt wurden dabei 455 Verdächtige festgenommen. Das alles war nur möglich dank der Informationen, die man nach dem Hack von Sky ECC sammeln konnte. Es war ein schwerer, aber wohl kein vernichtender Schlag. Die Drogenmafia ist eine Hydra mit unzähligen Köpfen.
Gewerkschaften machen mobil
Ende März gehen die Gewerkschaften auf die Straße. Sie protestieren gegen den Verlauf der Rahmentarifverhandlungen. Die Arbeitgeber verweisen auf die Lohnnorm und wollen nicht mehr als 0,4 Prozent an Lohnerhöhungen zuerkennen. Den Arbeitnehmerorganisationen ist das zu wenig. Sie erinnern daran, wie viele Beschäftigte während der Pandemie ihren Mann und ihre Frau gestanden haben. "Wir wollen, dass die Menschen ein Stück vom Kuchen abbekommen", sagt ein CSC-Gewerkschafter. "Vor allem diejenigen, die in Betrieben arbeiten, denen es trotz beziehungsweise in manchen Fällen gerade wegen der Corona-Krise gut geht".
Am 29. März rufen die Gewerkschaften also zum Aktionstag auf. Die Gegenseite ist not amused. In keinem Land außer Belgien käme man wohl auf die Idee, mitten in einer solchen Gesundheitskrise zu streiken, sagt Pieter Timmermans, der Geschäftsführer des Unternehmerverbandes FEB. Und nirgendwo sonst würde man gegen eine effektive Lohnsteigerung von 3,2 Prozent protestieren, wenn die Wirtschaft gerade um 6,5 Prozent geschrumpft sei.
Die einen sagen 0,4, die anderen 3,2 Prozent - das hat damit zu tun, dass die Arbeitgeber die zu erwartenden Indexanpassungen mit einberechnen. Dieser Konflikt sollte sich noch über Wochen hinziehen. Eine Frist nach der anderen verstreicht. Am Ende ist es die Regierung, die den Knoten durchhacken muss. Es bleibt im Wesentlichen bei der umstrittenen Lohnerhöhung von 0,4 Prozent, wobei die Möglichkeit eröffnet wird, in Sektoren, in denen es gut läuft, eine Prämie auszuzahlen. Erst im Juni werden die Gewerkschaften grünes Licht geben für das Rahmentarifabkommen. In seiner definitiven Fassung enthält es auch noch andere Punkte, etwa eine Erhöhung des Mindestlohnes.
Die dritte Welle kommt
Währenddessen hat das Coronavirus das Land wieder fest im Griff. Was sich Ende Februar angedeutet hatte, sollte sich bewahrheiten: Im März schwappt die befürchtete dritte Welle über das Land. Ende März erreicht sie ihren Höhepunkt. Das Virus zirkuliert so stark wie seit vier Monaten nicht mehr. Und der Druck auf die Intensivstationen nähert sich einem kritischen Niveau.
Dabei spielten die neuen Varianten des Virus wohl eine Rolle, sagt Premierminister Alexander De Croo. Man könne sogar von einer neuen Phase in der Pandemie sprechen. Deswegen zieht nach langem Zögern der Konzertierungsausschuss am 24. März die Reißleine. Eine vierwöchige "Osterpause" wird verhängt. Das ist zwar kein Lockdown, es mag sich aber für viele so anfühlen.
Das bedeutet unter anderem, dass der Präsenzunterricht an den Primar-, Sekundar- und Hochschulen ausgesetzt wird. Ferner ist Shopping nur noch mit Terminabsprache möglich. Das Verbot nicht-notwendiger Reisen ins Ausland bleibt in Kraft. Und, besonders bitter: Die sogenannten nicht-medizinischen Kontaktberufe müssen wieder dicht machen. Keine sechs Wochen nach der Wiederöffnung sind die Frisöre und Schönheitssalons wieder zu...
Mehr denn je liegen alle Hoffnungen auf der Impfkampagne. Die Strategie muss immer wieder den aktuellen Gegebenheiten angepasst werden. Für den größten Stress sorgt Astrazeneca. Nicht nur, dass das britisch-schwedische Unternehmen ständig seine Lieferversprechen anpassen muss, plötzlich wird auch untersucht, ob es einen Zusammenhang gibt zwischen der Impfung mit dem Astrazeneca-Vakzin und Todesfällen durch Blutgerinnsel. Das Ganze sorgt für enorme Unruhe und Besorgnis. Einige blasen ihren Impftermin sogar ab, weil sie nicht Astrazeneca verabreicht bekommen wollen.
Um die Frage nach den Nebenwirkungen zu klären, setzen einige Länder die Verwendung des Impfstoffs Mitte März sogar aus. Belgien gehört fast schon zu den letzten Ländern, die noch an dem Präparat festhalten. Man zieht schon den Vergleich zum Asterix-Dorf, das alleine der römischen Besatzung trotzt. Vorwürfe, wonach Belgien hier unvorsichtig vorgehe, weist Gesundheitsminister Frank Vandenbroucke entschieden zurück.
Im Gegenteil: Es wäre nicht vorsichtig, mit den Impfungen aufzuhören. Man habe doch gerade erst begonnen, die Über-65-Jährigen zu impfen, also eine besonders gefährdete Gruppe. Damit jetzt schon wieder aufzuhören, wäre unvorsichtig, sagt Vandenbroucke. Aber: Sobald es wirklich belastbare Daten gebe, die gegen die Verwendung des Impfstoffes sprechen, dann würde man natürlich sofort stoppen.
Anfang April ist das Bild klarer und wird die Altersempfehlung für das Präparat von Astrazeneca angepasst. Und dann gilt plötzlich das exakte Gegenteil von dem, was anfangs empfohlen wurde: Astrazeneca wird von da an nur noch Menschen über 55 verabreicht.
Im Großen und Ganzen muss man aber sagen, dass die belgische Impfkampagne trotz aller Unwägbarkeiten und kurzfristigen Anpassungen mehr oder weniger nach Fahrplan abgelaufen ist. Mehr noch: Kaum irgendwo wird schneller geimpft als in Belgien. Das ist ein kollektiver Erfolg, denn die Gemeinschaften und Regionen des Landes haben maßgeblich dazu beigetragen.
Eine "Party" gerät außer Kontrolle
Die Osterpause sorgt unterdessen dafür, dass die Menschen mehr und mehr die Geduld verlieren: Jugendliche, die "Freiheit, Freiheit" skandieren und danach die Polizei mit Alkoholflaschen bombardieren. Der Brüsseler Bois de la Cambre am späten Nachmittag des 1. April. Fast unglaubliche Szenen spielen sich dort ab. Einige Zeitungen sprechen von einer "Feldschlacht". Angefangen hatte alles mit der Ankündigung eines "Festivals", das in dem Park stattfinden sollte: La Boum, die Party.
Wobei natürlich jeder wusste, dass das eine Falschmeldung war. Die "Organisatoren" hatten das Ganze anscheinend als eine Art "Aprilscherz" verstanden. Nichtsdestotrotz strömen Hunderte vor allem junge Menschen in den Bois de la Cambre. Als dann aber die Zahl der Partygänger plötzlich in Richtung der 2.000er-Marke ging, habe man sich entschlossen einzugreifen, sagt der Brüsseler Bürgermeister Philippe Close. Und das führt dann eben zu einer erschreckenden Gewaltexplosion.
Die vierwöchige "Osterpause" geht zu Ende. Doch bleibt die Lage extrem angespannt: Auf den Intensivstationen des Landes werden 940 Patienten behandelt. So viele waren es seit November nicht mehr. Die Politik ist in einem Dilemma. Man würde vielleicht gerne lockern, auch, weil man den Unmut in Teilen der Bevölkerung und vor allem in den betroffenen Sektoren spürt. Auf der anderen Seite ist aber der Druck, der auf den Krankenhäusern lastet, einfach zu groß. Mitte April wird ein angepasster Lockerungsfahrplan vorgelegt.
Demnach wird die Impfquote zum Hauptkriterium, soll also bestimmen, wann welche Lockerungen möglich werden oder eben nicht. "Die Impfquote, das ist das Seil, an dem wir uns festhalten", so drückt es Premierminister Alexander De Croo aus. Aber natürlich wird sich auch die Lage auf den Intensivstationen verbessern müssen.
Vorsichtige Lockerungen
Festgehalten wird, dass die Schulen - wie geplant - wieder öffnen sollen, wenn auch teilweise noch mit Wechselunterricht. Die Frisörsalons und die sogenannten nicht-unentbehrlichen Geschäfte dürfen - wie versprochen - ihre Aktivitäten wieder aufnehmen. Nur muss sich der Horeca-Sektor eine Woche länger gedulden als erwartet. Und in einer ersten Phase werden auch nur die Terrassen geöffnet werden dürfen.
Den einen geht das zu schnell: "Dieses Tempo bei den Lockerungen, das bereitet uns Sorgen", sagt Margot Cloet, die Leiterin des größten Dachverbands von Pflegeeinrichtungen in Flandern. "Es liegen immer noch viel zu viele Patienten auf den Intensivstationen. Wir sind schon jetzt dazu gezwungen, Behandlungen zu verschieben, selbst bei Krebs- oder Herzpatienten. Und das wollen wir nicht."
Für andere hingegen ist das Maß voll: Café- und Restaurantbetreiber wollen es nicht mehr hinnehmen, erstmal nur die Terrassen öffnen dürfen - und dann auch noch eine Woche später. Das geht so weit, dass einige Horeca-Betriebe insbesondere in Lüttich den Aufstand proben wollen. Sie sind fest entschlossen, doch am 1. Mai ihre Terrassen zu öffnen. An besagtem 1. Mai bleibt es in Lüttich dann doch vergleichsweise ruhig. Zumindest sehen viele Café- und Restaurantbetreiber von Protestaktionen ab.
Im Brüsseler Bois de la Cambre-Park fliegen dagegen wieder die Fetzen. Am 1. Mai gibt es quasi ein Remake der Ereignisse, die sich an gleicher Stelle einen Monat zuvor ereignet hatten. Nicht umsonst haben die Organisatoren ihre Open-Air-Lockdown-Party "La Boum 2" genannt. Wieder eine regelrechte Gewaltexplosion. Wieder schwere Zusammenstöße zwischen Unruhestiftern und der Polizei. 15 Menschen werden verletzt, zwölf müssen ins Krankenhaus gebracht werden, darunter vier Polizisten.
Ein Nachspiel hat das Ganze aber womöglich nicht nur für die fünf Unruhestifter, gegen die ermittelt wird, sondern auch für den einen oder anderen Beamten. Im Internet kursieren Videos, die Polizisten zeigen, die über die Stränge zu schlagen scheinen. "Sie habe die Filme ebenfalls gesehen", sagte Innenministerin Annelies Verlinden. Und ihrer Ansicht nach sei es durchaus angebracht, diese Bilder in den nächsten Tagen mal ausgiebig zu analysieren, um zu ermitteln, ob die Gewalt, die auf beiden Seiten eingesetzt wurde, wirklich verhältnismäßig war. Die Bilder würden polizeiintern untersucht, es sei aber noch zu früh für ein abschließendes Urteil, sagt die Innenministerin.
Der Fall Jürgen Conings
Ein aufgeheiztes Klima. Wobei sich die Szene der Corona-Leugner, Impfgegner, Querdenker und selbsternannten "Freiheitskämpfer" zunehmend zu radikalisieren scheint. Ein Extrembeispiel sorgt im Mai für eine regelrechte Schockwelle.
18. Mai: Berichte machen die Runde, wonach nach einem Berufssoldaten gefahndet wird. Jürgen Conings, 46 Jahre alt, soll bewaffnet sein und in Abschiedsbriefen zu verstehen gegeben haben, dass er irgendwie "zur Tat schreiten will". Zuletzt gesehen wurde er in seiner Kaserne im Limburgischen Leopoldsburg. Dort ließ er, wie sich später herausstellte, ein regelrechtes Kriegsarsenal mitgehen: Waffen und große Mengen Munition. Als das auffiel, war er längst über alle Berge.
Tags darauf wird aber immerhin schon sein Auto entdeckt. Der SUV stand abgestellt am Rande des Nationalparks Hoge Kempen in der Provinz Limburg. In dem Fahrzeug finden die Ermittler zumindest einen Teil der gestohlenen Waffen: Vier Raketenwerfer werden sichergestellt, genauer gesagt Panzerabwehrhandwaffen, wie es im Fachjargon heißt. Man gehe aber davon aus, dass der Verdächtige immer noch bewaffnet ist, sagt Eric Van Duyse, der Sprecher der Föderalen Staatsanwaltschaft.
Conings wird als mutmaßlicher Terrorist eingestuft. Er ist nämlich alles andere als ein Waisenkind. Seit 1992 ist er Berufssoldat. Er hat diverse Auslandseinsätze absolviert, war unter anderem in Ex-Jugoslawien, im Libanon, in Afghanistan und im Irak. Kurz und knapp: Eine Kampfmaschine, ausgebildet, um zu überleben.
Nur hatte sich dieser Elitesoldat in der Zwischenzeit eben von den demokratischen Grundwerten verabschiedet. Jürgen Conings war offen rechtsextrem. In sozialen Netzwerken hatte er mehrmals Drohungen ausgesprochen, insbesondere gegen Virologen. Deswegen und wegen seiner rechtsextremen Umtriebe stand er - wie sich später herausstellt - auch schon auf der Gefährderliste des Antiterror-Stabs OCAM.
Weil er mehrmals den Virologen Marc Van Ranst ausdrücklich bedroht hatte, wurde der renommierte Wissenschaftler mit seiner Familie in eine sichere Unterkunft gebracht. Und das war, wie man heute weiß, die richtige Entscheidung. Conings hat nämlich offenbar tatsächlich am Tag seines Verschwindens die Wohnung des Virologen ausgespäht.
Doch Jürgen Conings ist wie vom Erdboden verschluckt. Wochenlang durchkämmen Hundertschaften der Polizei und der Armee das Naturschutzgebiet Hoge Kempen im Nordosten der Provinz Limburg. Fast 500 schwer bewaffnete Polizisten und Elitesoldaten sind im Einsatz, ganze Kolonnen von Polizei- und Militärfahrzeugen, Drohnen, Hubschrauber, das volle Programm. Doch der mutmaßliche Rechtsterrorist bleibt verschwunden.
Ein Grund mehr für die Sicherheitsverantwortlichen, richtig nervös zu sein. Denn Belgien erwartet hohen Besuch. Am 13. und 14. Juni ist der neue amerikanische Präsident Joe Biden zu Gast in Brüssel. Es ist sein Antrittsbesuch bei der NATO und auch bei der EU. Es ist offensichtlich seine Absicht, die Seite "Donald Trump" umzublättern.
"Amerika ist zurück", sagt Biden nach dem NATO-Gipfel in Brüssel. Viel wichtiger noch: Der US-Präsident bekennt sich ausdrücklich zu Artikel 5 der NATO-Verträge, also zur Beistandsklausel. Das sei für die USA eine heilige Pflicht. Das alles muss wie Musik in den Ohren der Europäer geklungen haben. Nach 42 Stunden verlässt der US-Präsident das Land wieder. 42 Stunden, die gereicht haben, um die Risse in der Transatlantischen Freundschaft erstmal wieder zu kitten.
In der Zwischenzeit hat sich die Corona-Lage endlich mal beruhigt. Der Konzertierungsausschuss hatte ja einen Sommerplan vorgelegt: Lockerungsschritte, die je nach Impfquote und Intensivbettenbelegung in Kraft treten können. Die erste Phase des Sommerplans kann am 9. Juni wie vorgesehen in Kraft treten. Dazu gehöre eben auch die Öffnung der Innenbereiche des Horeca-Sektors und zwar mit harmonisierten Öffnungszeiten von 5:00 Uhr bis 23:30 Uhr, sagt Premierminister Alexander De Croo. Ende Juni kann man die Lockerungen beschleunigen. Endlich mal gute Aussichten...
Wenn da Jürgen Conings nicht wäre. Dessen Verbleib ist nach wie vor ungeklärt. Immer noch wird fieberhaft nach ihm gesucht. Zwar will man inzwischen nicht mehr ausschließen, dass der Flüchtige tot ist. Doch scheinen die Ermittler offensichtlich nicht davon auszugehen. Ende Mai wendet sich Föderalprokurator Frédéric Van Leeuw live in den 19:00 Uhr-Nachrichtensendungen von VRT und VTM an den Gesuchten. "Wir bitten Jürgen Conings darum, mit einem Menschen Kontakt aufzunehmen, dem er vertraut."
In Flandern mehren sich derweil die Sympathiebekundungen für den mutmaßlichen Rechtsterroristen. In sozialen Netzwerken wird Jürgen Conings zuweilen regelrecht als Held gefeiert. Eine Facebook-Gruppe, in der Solidarität mit dem Flüchtigen bekundet wird, zählt Zehntausende Mitglieder. Bis heute wird der Mann in gewissen Kreisen verehrt.
Parallel dazu wächst der Druck auf Verteidigungsministerin Ludivine Dedonder. Denn der Fall wirft viele Fragen auf. Die offensichtlichste von allen: Wie kann es sein, dass ein Mann, der wegen des Verdachts rechtsextremer Umtriebe und wegen Todesdrohungen auf der Gefährderliste des OCAM steht, überhaupt noch bei den Streitkräften ist? Mehr noch: Dass ein solcher Mann nach wie vor Zugang zu schweren Waffen hat? Die Verteidigungsministerin und auch die Armeeführung geben sich fast schon demütig. Diese Geschichte wird wohl Fehler nach oben spülen, sagt Ludivine Dedonder - Fehler, die durch die laufenden Untersuchungen identifiziert und dann auch korrigiert werden müssten.
Generalstabschef Michel Hofman wird konkreter: Es gab Fehler beim Informationsaustausch, insbesondere beim Militärgeheimdienst SGRS, und offensichtlich auch Mängel bei der Befolgung von Prozeduren und Regeln. Flagrante Fehler gab es, werden Untersuchungsberichte später bestätigen. Beide, Ludivine Dedonder und auch Michel Hofman, lehnen aber einen Rücktritt ab.
20. Juni. Ein Sonntag: "Im Moment können wir nur bestätigen, dass es tatsächlich die Leiche von Jürgen Conings ist, die gefunden wurde", sagt Ann Lukowiak von der Föderalen Staatsanwaltschaft. Gefunden hatte man die sterblichen Überreste nicht weit von dem Ort, wo Conings sein Auto abgestellt hatte. Offensichtlich hat er sich erschossen. Wann genau, ist bis heute unklar. Aber, immerhin: Die Hetzjagd auf Jürgen Conings ist vorbei.
Delta dominiert
Der Sommer beginnt eigentlich mit der Hoffnung, dass wir den Anfang vom Ende der Corona-Krise erleben. Die Impfkampagne läuft inzwischen wie geschmiert. Sechs von zehn Menschen mit Begleiterkrankungen sind schon doppelt geimpft. Sorgen bereitet den Virologen aber wieder eine neue Variante, die erstmals im Mai in Indien nachgewiesen wurde. Heute ist sie unter dem Namen "Delta" bekannt. Anfang Juli wird diese Variante auch in Belgien dominant. Und das macht sich gleich in den Zahlen bemerkbar.
"Der Trend ist gebrochen, der Sinkflug der Corona-Zahlen ist beendet". Sciensano-Sprecher Steven Van Gucht spricht Worte aus, die eigentlich niemand mehr hören will. Und das Ganze klingt auch gleich wieder ziemlich besorgniserregend, auch aus dem Mund des frankophonen Kollegen Yves Van Laethem: "Die Zahl der Neuinfektionen hat in der vergangenen Sieben-Tages-Periode stark zugenommen und die Zahl der Neuaufnahmen in den Krankenhäusern scheint nicht mehr weiter zu sinken." Allein die Fallzahlen sind um stolze 66 Prozent gestiegen. Droht da schon wieder eine neue, eine Delta-Welle?
Vorbei ist es jedenfalls schon wieder mit der guten Laune. Wenn man sie auch längst nicht mehr sehen kann, so muss man nun doch schon wieder ein besorgtes Auge auf die Corona-Kurven richten. Am 19. Juli drückt der Konzertierungsausschuss erstmal die Pausentaste. Neue Lockerungen werden nicht beschlossen, wohl aber verschärfte Regeln für Reiserückkehrer.
Eine nationale Tragödie
In diesen Julitagen hat die Regierung und hat das Land aber ganz andere Sorgen. "Apokalyptische Bilder. Die Lage ist ernst. Eine nationale Katastrophe" - Betroffenheit in der Kammer angesichts der dramatischen Ereignisse im Osten des Landes. Am 14. und 15. Juli gehen sintflutartige Regenfälle insbesondere über dem Osten des Landes nieder.
Vor allem in der Provinz Lüttich verwandeln sich auch kleine Wasserläufe in reißende Ströme, die alles zerstören, was in ihrem Weg liegt. Ganze Ortschaften saufen buchstäblich ab. In dem Gebiet zwischen Lüttich und Verviers müssen zahllose Menschen auf den Dächern ausharren und stundenlang auf Hilfe warten. Schreckliche, im wahrsten Sinne des Wortes unfassbare Bilder...
Der nationale Katastrophenplan wird ausgelöst. Hilfskräfte aus dem ganzen Land eilen in die Krisengebiete, um dort zu helfen, manchmal spontan, ohne vorherige Order. Doch es fehlt oft an geeignetem Material. Innenministerin Annelies Verlinden sieht sich zu einem beispiellosen Schritt gezwungen. Sie sei zu dem Schluss gekommen, dass Belgien, trotz allen Einsatzes und aller Bemühungen, diese Krise nicht alleine schultern könne. Deswegen habe sie das EU-Katastrophenschutzverfahren aktiviert und über diesen Weg internationale Hilfe beantragt.
Die Bilanz ist verheerend. Am Ende werden 39 Menschen der Katastrophe zum Opfer gefallen sein. Und viele der Überlebenden haben alles verloren. Ganze Landstriche sehen aus wie ein Kriegsgebiet. Allein in der Wallonie sind insgesamt über 200 Gemeinden mehr oder weniger schwer von der Katastrophe betroffen. Die Wallonische Regierung leitet sofort alle nötigen Schritte ein, um Hilfen für die Betroffenen freizumachen.
An den Unterläufen der Flüsse sorgt das Hochwasser später auch noch für eine angespannte Situation. In der Provinz Limburg entlang der Maas entgeht man nur knapp einer neuen Tragödie. "Das ist eine Katastrophe, wie sie das Land noch nie erlebt hat, sagt Premierminister Alexander De Croo. Angesichts der dramatischen Bilanz hat die Regierung für Dienstag, den 20. Juli Staatstrauer angeordnet. Um Mittag findet eine Schweigeminute statt. An vielen Feuerwehrkasernen im ganzen Land heulen die Sirenen. König Philippe ist sichtlich bewegt bei seinem Besuch in Verviers und hat seine Tränen nicht verborgen.
Das ist denn auch der traurige Kontext, in den sich der Nationalfeiertag 2021 einbettet. Eine Katastrophe in einem neuen Katastrophenjahr. Als wäre die Corona-Krise nicht schon genug gewesen, kam dann auch noch eine Jahrhundertflut obendrauf... König Philippe stellt beide Ereignisse in den Mittelpunkt seiner Rede zum Nationalfeiertag. Am 21. Juli finden die Feierlichkeiten zum Nationalfeiertag denn auch nur eingeschränkt statt, aus Respekt den Opfern gegenüber und auch denjenigen, die vor den Scherben ihrer Existenz stehen.
Hungerstreik der Papierlosen
Aber - als wäre das alles nicht genug - leistet sich die Föderalregierung auch noch eine interne Zerreißprobe. Hintergrund ist eine Aktion von Menschen ohne Papiere in Brüssel. Rund 500 Menschen halten seit Wochen eine Brüsseler Kirche und Räumlichkeiten der Freien Universität Brüssel besetzt. Sie fordern ein ständiges Bleiberecht in Belgien. Um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen, sind rund die Hälfte von ihnen in den Hungerstreik getreten. Das war schon vor rund zwei Monaten. Seit einigen Tagen trinken einige von ihnen aber auch nichts mehr. Und jetzt tickt eine Uhr, denn der Gesundheitszustand von einigen der Hungerstreikenden ist inzwischen besorgniserregend.
Kurz vor dem Nationalfeiertag sprechen die sozialistischen und grünen Minister aber eine deutliche Warnung aus: "Wenn einer der Hungerstreikenden stirbt, dann würden sie zurücktreten. Damit wäre also die föderale Koalition am Ende." Am Nationalfeiertag gibt es dann aber einen Durchbruch: Jedenfalls tritt ein Sprecher der Hungerstreikenden vor die Beginenkirche und kündigt an, dass die Aktion ausgesetzt werde. Es gebe ein Abkommen. Um den Stress und die Angst in der Kirche abzubauen, habe man beschlossen, den Hungerstreik bis auf weiteres zu unterbrechen.
"Abkommen? Was bedeutet das?", fragten sich aber gleich Oppositionspolitiker und Beobachter. Denn: Asylstaatssekretär Sammy Mahdi hatte sich eigentlich bis dahin ziemlich kompromisslos gezeigt und immer wieder auf die geltenden Gesetze und Regeln verwiesen. "Keine kollektive Regularisierung!", diese Leitlinie hatte Mahdi bei jeder Gelegenheit wiederholt. Und er sei auch keinen Millimeter davon abgerückt, versichert der CD&V-Politiker. "Wir haben keinen Deal geschlossen", betonte Mahdi. Es gebe Regeln, die weiterhin gelten, und die Prozeduren blieben unverändert.
Vereinbart wird, dass jeder einzelne Fall gesondert geprüft wird. Nur wird sich herausstellen, dass nur die wenigsten für eine Legalisierung infrage kommen. Viele fühlen sich verschaukelt. Gegen Ende des Jahres drohen einige damit, ihren Protest wieder aufzunehmen...
Die Personalie Ihsane Haouach
Die Föderalregierung ist jedenfalls erstmal gerettet. Wobei das nicht der erste handfeste Konflikt war, der die Koalition in diesen Tagen erschüttert hat. Anfang des Monats war eine Polemik entbrannt über eine Personalie, für die die Grünen verantwortlich zeichnen. Die Ecolo-Staatssekretärin Sarah Schlitz hatte die 36-jährige Ihsane Haouach zur Regierungskommissarin im Institut für die Gleichstellung von Frauen und Männern ernannt. Einige wollen aber nicht hinnehmen, dass die junge Frau das islamische Kopftuch trägt. Für die MR etwa verstößt das gegen das staatliche Neutralitätsgebot.
Haouach selbst setzt dann aber nochmal einen drauf: In einem Zeitungsinterview stellt sie sinngemäß die Frage, ob das Prinzip der Trennung von Kirche und Staat nicht auch abhängig sei von der demographischen Entwicklung. Das klingt mindestens nach einer Relativierung dieses in der Verfassung verankerten Grundprinzips. Irgendwann wird der Druck zu groß: Ihsane Haouach tritt von ihrem Amt zurück.
Am selben Tag sorgt aber noch eine weitere Meldung für Aufregung: "Ihsane Haouach habe Verbindungen zur Moslembruderschaft", heißt es da unter Berufung auf eine Note der Sûreté. Die Moslembruderschaft ist ein fundamentalistischer Geheimbund. In einigen Ländern wird die Vereinigung als Terrororganisation eingestuft. Sehr schnell wird aber deutlich, dass die Sûreté Frau Haouach hier eher in einer passiven Rolle sieht: Es sind die Moslembrüder, die ihre Nähe gesucht haben, und nicht umgekehrt.
Es war ein ereignisreicher Monat Juli, von Sommerloch keine Spur. Kurz nach dem Nationalfeiertag gibt das Königliche Meteorologische Institut erneut eine Unwetterwarnung aus. Schon wieder Code orange! So hatte es auch vor zehn Tagen angefangen. Und die Experten haben sich - leider - nicht geirrt... So hat sich etwa am 24. Juli eine Straße in Dinant in kürzester Zeit in einen Sturzbach verwandelt. Ein Mann, der diese Szenerie mit seinem Handy filmt, ist hörbar verzweifelt. Privatwagen werden mitgerissen, als wären es Spielzeugautos. Unten krachen sie in einen Bahnübergang, den man auch nur noch an den Schranken erkennen kann. In Namur gibt es ebenfalls Chaos und Zerstörung.
Einen Tag zuvor, am 23. Juli: Steven Gucht und Yves Van Laethem sagen "Auf Wiedersehen". Beide haben erst täglich, dann zweimal die Woche die Bevölkerung über den letzten Stand der Corona-Pandemie informiert. Für so manchen waren sie am Ende wohl so etwas wie alte Bekannte. Aber, soviel vorweg: Wir haben die beiden nicht zu letzten Mal gesehen...
Wie dem auch sei: Zu diesem Zeitpunkt könnte man den Abschied der beiden Sciensano-Sprecher von der Medienbühne als ein Signal verstehen. Nämlich, dass die Pandemie so gut wie vorbei ist, dass das viel beschworene "Reich der Freiheit" wirklich vor der Türe steht. In der Tat: Die Impfkampagne ist auf der Zielgeraden. Im Großen und Ganzen fehlen nur noch die Unter-30-Jährigen. Aber, irgendwie will sich der Optimismus nicht einstellen.
Die Geburt des CST
Genau darauf haben Zehntausende Musik-Fans lange gewartet. Ab August sollten große Festivals wieder stattfinden können. Ab dem 13. August soll das Covid-Safe-Ticket zur Verfügung stehen, das eigens für solche Großereignisse "erfunden" wurde und das Aufschluss darüber geben soll, ob man geimpft, getestet oder genesen ist.
Auf der Pukkelpop-Festivalwiese laufen Ende Juli bereits die Vorbereitungen auf Hochtouren. Das Alternativ-Event soll zwischen dem 19. und dem 22. August stattfinden. Den Behörden scheint aber mehr und mehr mulmig zu sein angesichts von Veranstaltungen mit bis zu 60.000 Besuchern. Ein Wort fasst das Problem zusammen: "Delta".
Seit einiger Zeit steigt wieder die Zahl der Corona-Neuinfektionen. In einigen Ländern gehen die Zahlen schon wieder durch die Decke. Und auch in Belgien wird dieser Trend immer deutlicher sichtbar. Die Region Brüssel etwa ist schon wieder rot eingefärbt auf der Karte des ECDC, also des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten.
Der Konzertierungsausschuss hatte bei seiner letzten Sitzung die Auflagen für Großereignisse nochmal verdeutlicht. Unter anderem wurden die Test-Auflagen angeschärft. Für die Pukkelpop-Verantwortlichen sind die so gut wie nicht umsetzbar. Das Festival wird abgesagt und damit in gewisser Weise zum Symbol der zerborstenen Träume mit Blick auf das "Reich der Freiheit". In diesem Sommer werden wir das normale Leben noch nicht zurückbekommen. Im Gegenteil. Von da an wird es eigentlich nur noch bergab gehen...
Das CST wird diesen Festivalsommer aber überleben. Ursprünglich hatte es geheißen, dass das Covid-Safe-Ticket ausschließlich für den Sommer 2021 gelten sollte. Im Grunde ist dieses CST vergleichbar mit dem EU-Reisezertifikat, das im Juni in Kraft getreten war. Ein QR-Code liefert den Nachweis, dass man geimpft, getestet oder genesen ist.
Seit die EU entsprechende Pläne im Frühjahr bekanntgegeben hatte, sorgt dieser Corona-Pass schon für angeregte, manchmal auch hitzige Diskussionen. Mit jedem Tag, an dem mehr Menschen geimpft sind, stellt sich auch lauter die Frage, welchen Wert am Ende ein Impfnachweis haben könnte.
Schon im Frühjahr hatte das Parlament über diese Frage debattiert. Und die damaligen Worte der ostbelgischen Kammerabgeordneten Kattrin Jadin klingen aus heutiger Sicht fast prophetisch: "Ich denke zum Beispiel, dass das ein ganz essentieller Fortschritt sein könnte, wenn wir morgen wieder vermehrt sportliche Aktivitäten haben oder als Zuschauer an sportlichen Aktivitäten teilnehmen möchten. Wenn wir auch wieder unsere Kultur beleben wollen".
Das CST also quasi als Eintrittskarte für größere Veranstaltungen - genau solche Gedanken beginnen im Sommer zu reifen. Vor allem in Brüssel wird darüber nachgedacht, angesichts steigender Fallzahlen das CST auch beispielsweise in Kneipen einzusetzen.
Belgische Athleten räumen bei Olympischen Sommerspielen ab
1. August: Viele Sportfans in Belgien blicken gebannt auf ihren Fernseher. Nina Derwael absolviert ihr Finale am Stufenbarren. Sie ist eigentlich die Favoritin. Jetzt müssen nur noch die Nerven halten. Spannung pur. Jetzt der kritische Moment... "Sieht gut aus", sagt der flämische Kommentator.
Selbst, wer sich bislang nicht wirklich für den Turnsport interessiert hat, wird von der Spannung erfasst. Am Ende halten die Nerven. Die limburgische Ausnahmeturnerin wird Olympiasiegerin. Es ist die erste Goldmedaille im Turnen für eine belgische Sportlerin. Insgesamt ist es die beste Medaillenausbeute seit 1948: dreimal Mal Gold, einmal Silber und dreimal Bronze. Das ist ein Trost nach dem doch enttäuschenden Abschneiden der Roten Teufel bei der EM genau einen Monat zuvor.
Operation "Red Kite"
Ende August blicken Europa und die USA auch wieder nach Osten. In Afghanistan überschlagen sich die Ereignisse. Im Frühjahr hatten die NATO-Länder ihre Truppen aus dem Land am Hindukusch abgezogen. 20 Jahre hatte der Einsatz gedauert. Doch kaum waren die westlichen Truppen weg, da rückten die Taliban wieder vor.
Die afghanische Armee leistete trotz der jahrelangen Ausbildung durch westliche Soldaten keinen nennenswerten Widerstand. Nach einem blitzartigen Vormarsch rücken bewaffnete Kämpfer der radikal-islamischen Miliz am 15. August in die Hauptstadt Kabul ein. Damit wird die Situation von vor 20 Jahren quasi über Nacht wiederhergestellt. Es ist, als wäre die NATO nie da gewesen.
Stellt sich aber eine Frage: Was passiert mit den sogenannten Ortskräften, also den Menschen, die den westlichen Armeen oder Organisationen in den letzten 20 Jahren geholfen haben? Viele westliche Länder, darunter auch Belgien, starten Hals über Kopf Evakuierungsmissionen.
Am 20. August läuft Operation "Red Kite" an: Belgien fliegt seine Staatsbürger, deren Angehörigen und eben auch afghanische Ortskräfte aus, die für die Belgier vor Ort gearbeitet haben. Die Streitkräfte blieben so lange vor Ort wie nötig, verspricht Verteidigungsministerin Ludivine Dedonder. "Wir werden wirklich alles daransetzen, um niemanden zurückzulassen". Sie hoffe aber, dass man diese Operation schnell über die Bühne bringen kann, auch im Sinne der Betroffenen. Am Ende wird Belgien knapp 1.400 Menschen aus Afghanistan ausgeflogen haben.
Im August beginnen auch die Corona-Zahlen langsam, aber sicher, wieder zu steigen. Noch sorgt das nicht wirklich für größere Besorgnis. Das Corona-Kommissariat sei zu dem Schluss gekommen, dass die Lage in den Krankenhäusern beherrschbar ist und das auch bleiben kann. Und das allein dank der Impfung, sagt Premierminister Alexander De Croo am 20. August.
Dennoch gibt das Institut für Volksgesundheit Sciensano am 31. August eine Warnung aus: "Es ist also möglich", so sagt Steven Van Gucht, "dass so im Oktober/November wieder mit bis zu 400 Krankenhausaufnahmen pro Tag gerechnet werden muss. Und mit über 1.000 Patienten auf den Intensivstationen". Diese Zahlen entsprechen ziemlich genau dem, was tatsächlich eingetreten ist. Die Zahlen lagen am Ende nur knapp unter diesem Worst-Case-Szenario.
Dennoch: Erstmal stehen die Zeichen noch weiter auf Lockerungen. Ende August wird die letzte Phase des Sommerplans in Kraft gesetzt. In Flandern wird im Oktober sogar die Maskenpflicht weitgehend aufgehoben. In Brüssel, wo die Zahlen auf einem anhaltenden schlechten Niveau sind, wird aber im September die Einführung des CST beschlossen, das also zum Beispiel in Kneipen und Restaurants vorgelegt werden soll. Die Maßnahme wird aber erst im Oktober in Kraft treten. Das Beispiel sollte Schule machen...
In Flandern sorgt in diesem Herbst derweil weiter der PFOS-Skandal für Diskussionsstoff. Das Gelände für die Oosterweel-Verbindung, also den Antwerpener Autobahnring, ist mit der giftigen Chemikalie PFOS verunreinigt - PFOS aus der 3M-Fabrik im nahegelegenen Zwijndrecht. Das war, wie sich später herausstellt, schon seit 2017 bekannt.
Das hatte Luc Hellemans, der Geschäftsführer der Bau- beziehungsweise Betreibergesellschaft der Oosterweel-Verbindung, bereits im Juni sogar offen zugegeben: Jedes Jahr seit 2017 sei von seinem Unternehmen konsequent über PFOS und den Umgang damit informiert worden. Von einem Versteckspiel könne keine Rede sein.
Offenbar hatte man aber beschlossen, die Bevölkerung nicht zu informieren. E-Mails aus Kabinetten flämischer Minister lassen erkennen, dass der Skandal geheim gehalten werden sollte. Wer genau die Order gab, das war aber bislang nicht zu ermitteln.
Es knirscht in der Vivaldi-Koalition
Anfang Oktober: Für die Föderalregierung rückt ein wichtiger Termin näher. Am 12. Oktober steht die Regierungserklärung von Premierminister Alexander De Croo vor dem Parlament an. Darin skizziert die Regierung traditionell auch die groben Linien ihres Haushaltes für das kommende Jahr. Die Phase des reinen Corona-Krisenmanagements ist - so hofft man - inzwischen so gut wie vorbei. Jetzt gilt es also, über das Budget wirklich mal politische Impulse zu setzen.
Das allerdings ist bei einer Koalition mit so vielen unterschiedlichen Partnern sehr schwierig: Es sind bekanntlich sieben Parteien, die inhaltlich in einigen Bereichen fast schon auf anderen Planeten leben. Und tatsächlich leistet sich die Vivaldi-Koalition hier einen ausgewachsenen Richtungsstreit. Schuld ist vor allem der Dauerzwist zwischen den frankophonen Partnern, insbesondere zwischen PS und MR.
Zwar erreichen die Vivaldi-Parteien kurz vor Zapfenstreich einen Kompromiss. Darin werden auch einige heiße Eisen angepackt. Unter anderem ergreift die Koalition auch Maßnahmen, um die hohen Energiepreise abzufedern. Fast schon wichtiger sind aber die Punkte, die in dem Abkommen gar nicht oder nur am Rande erwähnt werden, allen voran ein echter Plan zum Atomausstieg. Und genau dieses Thema sollte den Partnern einige Woche später auf die Füße fallen...
In der Zwischenzeit meldet sich aber das Coronavirus zurück. Seit August liegt die Zahl der Neuinfektionen mehr oder weniger konstant bei um die 2.000. Was vor einem Jahr noch sehr viel gewesen wäre, ist jetzt "kontrollierbar". Dank der Impfungen bleibt die Zahl der Krankenhausaufnahmen über Wochen mit rund 50 pro Tag überschaubar.
In der zweiten Oktoberwoche sieht man aber einen deutlichen "Knick" in den Kurven: Beide Parameter beginnen zu steigen. Immer schneller... Die Zunahme sei praktisch exponentiell, sagt Sciensano-Sprecher Yves Van Laethem. Das gelte vor allem für Flandern und Limburg.
Die vierte Welle ist da - das Pandemiegesetz wird in Kraft gesetzt
Von wegen "Reich der Freiheit"! Viele Menschen sind sauer, dass man plötzlich wieder genau die Meldungen hört, von denen man doch eigentlich geglaubt hatte, dass sie endgültig der Vergangenheit angehören und dass nach der Impfung alles zur Normalität zurückkehren werde. Jetzt ist die vierte Welle da. Ein unheimliches Déjà-Vu.
Erstmal erscheint das Covid-Safe-Ticket als die Patentlösung. Die Region Brüssel hatte das CST Mitte Oktober in einer ganzen Reihe von Bereichen eingeführt, die Wallonie will nachziehen. Und am 26. Oktober beschließt der Konzertierungsausschuss, dass das Covid-Safe-Ticket ab dem 1. November landesweit vorgezeigt werden müsse vor einem Besuch in einem Horeca-Betrieb oder einem Fitnessclub.
Daneben wird auch die Maskenpflicht wieder ausgeweitet, etwa auf Geschäfte und auf öffentliche Gebäude. Spürbar ist das aber nur in Flandern, weil die Auflage hier erst vor einigen Wochen gestrichen worden war. Für den Norden des Landes muss sich das denn auch wie ein Rückschritt anfühlen. Außerdem entscheidet die Regierung, das neue Pandemiegesetz in Kraft zu setzen. Darüber war im ersten Halbjahr mitunter hitzig debattiert worden.
Das Problem war, dass die Rechtsgrundlage bis dahin - sagen wir - eher schwammig war. Das hatte auch schon zu einigen Aufsehen erregenden Gerichtsurteilen geführt. Ende März hatte ein Richter die geltenden Corona-Maßnahmen de facto für unrechtmäßig erklärt, was damals für helle Aufregung gesorgt hatte. Von da an wurde unter Hochdruck an einem Pandemiegesetz gearbeitet, das also die Zuständigkeiten und den Instrumentenkasten für den Pandemie-Fall definieren sollte.
Nach mehreren Anläufen war das Gesetz Mitte Juli verabschiedet worden. Und jetzt wird das Parlament also erstmals auf dieser Grundlage die epidemische Notlage ausrufen, sagt Premierminister Alexander De Croo. Die solle zunächst für drei Monate gelten. Seit Anfang November gilt diese epidemische Notlage. Doch zeigt sich: Die bis dahin beschlossenen Maßnahmen reichen nicht aus. Die Zahlen steigen immer weiter.
Die Krankenhäuser ziehen die Alarmglocke. Planbare Eingriffe müssen schon wieder verschoben werden. Im Grunde all das, was man schon mal erlebt hatte und von dem man glaubte, dass die Impfung dem eine Ende setzen würde. Im November gehen die Zahlen regelrecht durch die Decke, erreichen ein bis dahin nie gesehenes Niveau: durchschnittlich fast 18.000 Neuinfektionen pro Tag in der letzten Novemberwoche, mit einem Tagesrekord von 25.000. Nur die Impfungen verhindern, dass kein Lockdown verhängt werden muss. Davon ist auch Premierminister Alexander De Croo überzeugt.
Nur ist die Impfquote eben gut, aber nicht sehr gut. In Belgien sind - über den Daumen gepeilt - drei von vier Menschen geimpft. Bei den Erwachsenen sind es laut Sciensano knapp neun von zehn. Das Problem sind die regionalen Unterschiede. In Brüssel etwa beläuft sich die Impfquote nur auf etwas mehr als 70 Prozent. Ein weiteres Problem ist, dass der Schutz nicht hundertprozentig ist und zudem mit der Zeit abnimmt.
Impfpflicht für Pflegekräfte soll kommen
Weil die Impfquote auch im Gesundheitssektor stellenweise als zu niedrig erachtet wird, entschließt sich allen voran Gesundheitsminister Frank Vandenbroucke zu einem drastischen Schritt: Zum 1. Januar soll eine Impfpflicht für Pflegekräfte eingeführt werden. Medizinisches Personal, das am 1. April noch nicht geimpft ist, wird seinen Beruf nicht mehr ausüben dürfen, was auf eine Entlassung hinausläuft.
Es sei doch nur logisch, mehr noch: eine Pflicht, dass jemand, der im Gesundheitswesen arbeitet, seine Patienten bestmöglich schützt. Und dass er auch sich selbst schützt, um nicht krankheitsbedingt auszufallen und damit den Dienst aufrechtzuerhalten, begründet Vandenbroucke den Schritt.
Doch wird das natürlich die vierte Welle nicht stoppen. Im November beginnt die Lage in den Krankenhäusern dramatische Ausmaße anzunehmen. "Uns verlässt die Hoffnung. Wir haben schon so oft die Alarmglocke gezogen. Aber jetzt geht es echt nicht mehr." Aus den Worten von Margot Cloet, der Vorsitzenden des flämischen Pflege-Dachverbandes Zorgnet-Icuro, spricht fast schon die Verzweiflung. Auf dem Höhepunkt der vierten Welle Anfang Dezember werden 840 Covid-Patienten auf Intensiv liegen. Die Grenzen der Kapazitäten sind damit fast erreicht.
Doch die Regierungen des Landes zögern. Drei Konzertierungsausschüsse folgen einander innerhalb von weniger als drei Wochen. Größere Indoor-Veranstaltungen werden verboten, das Nachtleben wird teilweise heruntergefahren und die Schüler werden eine Woche früher in die Ferien geschickt.
Großdemonstration gegen die Corona-Politik
Das Ganze zerrt den Menschen an den Nerven. Einige wollen das alles nicht länger hinnehmen. Am 21. November ziehen 35.000 Menschen durch die Straßen von Brüssel, um gegen die Corona-Regeln und gegen eine mögliche Impfpflicht zu demonstrieren. Es ist ein bunter Haufen: Besorgte Bürger, Impfgegner, aber auch Rechtsextremisten. Am Rande der Demo kommt es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Krawallmachern und der Polizei.
Wieder eine Demo, die entgleist. Wieder Szenen wie aus einem Krieg. Wieder massiver Sachschaden entlang der Kundgebungsroute. Resultat: Drei verletzte Polizisten, eine Schneise der Verwüstung. 44 Personen werden festgenommen.
Immerhin: Im Dezember scheint die vierte Welle abzuebben. Die Maßnahmen, die oft als allzu zaghaft empfunden worden waren, erweisen sich als ausreichend: In der zweiten Dezemberwoche beginnen die Zahlen spürbar zu sinken. Doch geht seit Ende November ein neues Schreckgespenst um: Eine neue Variante wurde entdeckt, Omikron.
Planlos in Glasgow - und eine Hängepartie in punkto Atomausstieg
Derweil hat die Föderalregierung in diesen letzten Wochen des Jahres auch noch andere Sorgen. Genau das, was man nach dem Haushaltsabkommen vom Oktober befürchtet hatte, tritt tatsächlich ein: Die Regierung hatte ja einige Akten quasi "geparkt", also erstmal liegengelassen. Resultat: Premierminister Alexander De Croo muss erstmal ohne einen wirklich bezifferten Plan zur Klimakonferenz nach Glasgow fahren. Schuld ist aber vor allem die flämische Regierung, die noch an einem Klimaplan feilte, als die Konferenz in Glasgow schon begonnen hatte.
Ebenfalls liegengeblieben war die heikle Frage des Atomausstiegs. Ende November wollte man sich darüber aussprechen und dann auch endlich eine Richtungsentscheidung treffen: 18 Jahre, nachdem der Atomausstieg im Parlament beschlossen worden war. Das Ganze gerät aber zunehmend zur Schlammschlacht. Und zwar auf allen Ebenen. In Flandern verweigert die N-VA-Umweltministerin Zuhal Demir ein ums andere Mal die Genehmigung für Gaskraftwerke. Das Problem: Gaskraftwerke sind nötig, um den nötigen Strom zu liefern, wenn die letzten Reaktoren wie vorgesehen 2025 abgeschaltet werden.
Die Begründung der flämischen Umweltministerin ist immer die gleiche: Das Gaskraftwerke entspreche nicht den strengen, flämischen Stickstoffnormen. Und wir machen da auch keine Ausnahme für die Gaskraftwerke, sagte die N-VA-Politikerin. Weil die Gaskraftwerke so wichtig sind mit Blick auf den Atomausstieg, steht denn auch der Verdacht im Raum, dass die N-VA die Politik der Föderalregierung absichtlich sabotiere.
Die föderale Energieministerin Tinne Van der Straeten lässt sich aber nicht beirren. Sie sucht nach Alternativen. Man werde ohnehin mittelfristig nicht so wirklich viel Leistung aus den Gaskraftwerken brauchen. Gerade erst habe man Grünes Licht gegeben für den Ausbau des Offshore-Windparks vor der Küste. Die Kapazität der Anlage werde sich bis 2026 verdreifachen auf dann sechs Gigawatt: das entspricht der Leistung von sechs Atomreaktoren. Und deswegen werde der Atomausstieg in jedem Fall kommen, verspricht die Energieministerin.
Das ist aber nicht das einzige Problem. Der MR-Vorsitzende Georges-Louis Bouchez schimpft wie ein Rohrspatz, wettert wochenlang gegen den Atomausstieg. Erstmal sieht man darin nur den Theaterdonner eines Parteipräsidenten, der für seine Profilneurose bekannt ist.
In der Woche vor Weihnachten schießt dann aber auch die MR-Vizepremierministerin Sophie Wilmès quer. "Wir haben aus heutiger Sicht keine 100-prozentige Garantie für eine Energieversorgung ohne Atomstrom nach 2025", sagt Wilmès. "Und was sagt dazu der Koalitionsvertrag? Er sagt: Wenn es keine Garantie der Energieversorgung ohne Atomstrom gibt, wird an einem Plan B gearbeitet. Deshalb verlange sie, dass wir an dem Plan B arbeiten."
Damit legt Wilmès die Lunte ans Pulverfass. Spätestens jetzt ist der Streit auch in der Föderalregierung angekommen. Am Tag vor Heiligabend heißt es, die Regierung habe doch noch eine Einigung erzielt. Premierminister Alexander De Croo und Energieministerin Tinne Van der Straeten treten gemeinsam vor die Presse. Nur, um dann doch anzukündigen, dass die endgültige Entscheidung in dieser Akte Mitte März kommenden Jahres getroffen werden soll. Wieder ein Aufschub also. Und der Koalitionsstreit dürfte in den kommenden Wochen also munter weitergehen...
Corona trübt mal wieder die vorweihnachtliche Stimmung
Nicht zu vergessen: Das Inflationsgespenst geistert herum. Die Preise steigen und steigen und steigen. Da wartet wohl auch noch Arbeit auf die Regierung. In diesen letzten Tagen des Jahres zieht aber eigentlich nur Omikron die Blicke auf sich. "Ja, wir sind wirklich besorgt", sagt Gesundheitsminister Frank Vandenbroucke am 16. Dezember. "Omikron ist sehr ansteckend und breitet sich rasend schnell aus." In einigen Ländern zeigen die Kurven schon steil nach oben. Die Niederlande gehen am 20. Dezember Hals über Kopf in einen harten Lockdown.
Vor diesem Hintergrund wird die Booster-Impfung noch einmal beschleunigt. Die Risikogruppen sind schon weitgehend ein drittes Mal geimpft. "Wir hoffen, dass der Großteil der Menschen Ende Januar eine Einladung zu einer Drittimpfung erhalten haben wird", sagte Frank Vandenbroucke.
Am 22. Dezember kommt der Konzertierungsausschuss erneut zusammen. Die Politik steht vor einem Dilemma: Auf der einen Seite gehen die Fallzahlen zurück. Auf der anderen Seite ist aber die hochansteckende Omikron-Variante auf dem Vormarsch. Der Konzertierungsausschuss beschließt denn auch vorsichtshalber die Schrauben noch ein bisschen weiter anzuziehen. Was aber schockiert, ist, wo die Regierungen des Landes den Hebel ansetzen: Es ist vor allem die Kultur, die heruntergefahren wird. Dagegen regt sich Widerstand: Nach Weihnachten öffnen einige Kinos und Theater, als gäbe es keine neuen Auflagen. Die Polizei schaut vielerorts erstmal weg...
Eine andere Frage ist, ob die Maßnahmen reichen werden. Experten rechnen mit einer Explosion der Fallzahlen. Nach jüngsten Erkenntnissen könnte der Verlauf einer Omikron-Infektion aber milder sein. Genau weiß man das aber noch nicht. Die ersten Karnevalsumzüge wurden jedenfalls schon wieder abgesagt. 2021 hört also auf, wie es angefangen hat: Das Jahr begann mit dem Abflauen der zweiten Welle und endet mit der aufkommenden fünften Welle. Es war nicht das Jahr, in dem das Reich der Freiheit angebrochen ist. Vielleicht wird das ja 2022.
Die Schlussworte des Königs in seiner Weihnachtsansprache sind vielleicht das treffendste Fazit nach dem zweiten Seuchenjahr in Folge: "Lassen Sie uns die Zukunft nicht fürchten. Sehen wir ihr mit Zuversicht entgegen."
Roger Pint