Luc Sels ist besorgt. Der Rektor der altehrwürdigen Katholischen Universität Löwen sieht Entwicklungen, die ihn nachdenklich machen. Seine Gedanken hat er in den Mittelpunkt seiner Rede zum Auftakt des neuen akademischen Jahres gestellt und damit vor allem in Flandern doch viel Staub aufgewirbelt.
Erste, eindeutig sichtbarste Feststellung: Immer mehr Uni-Professoren müssen unter Polizeischutz gestellt werden. Er könne die Fälle nicht mehr an einer Hand abzählen. "Und das sagt eigentlich schon, was es sagt", so Sels.
Zuallererst denkt man da natürlich an den Löwener Virologie-Professor Marc Van Ranst, der ja wegen der Bedrohung durch Jürgen Conings sogar in eine sichere Wohnung gebracht werden musste, zusammen mit seiner Ehefrau und seinem Sohn. Doch sei das nur die Spitze des Eisbergs, sagt Sels. Insgesamt sei das Klima doch grimmig geworden, insbesondere für Intellektuelle und Menschen aus der akademischen Welt.
Schuld ist vor allem die extreme Polarisierung, die man insbesondere in Sozialen Netzwerken beobachten kann. Man könne über diese Medien ja denken, was man wolle, aber dort finde letztlich heutzutage die gesellschaftliche Debatte statt. Der Ton werde dort aber inzwischen derartig rau, dass viele Menschen aus der akademischen Welt einfach davor zurückschrecken, sich noch in diesem Rahmen zu äußern. "Und so weit darf es nicht kommen", sagte Rektor Luc Sels in der VRT.
Sels wirft da eigentlich alles in einen Topf, was eben zu einer gewissen Radikalität neigt. Das können Verschwörungsideologen sein, die den akademischen Experten unterstellen, Teil eines großen Komplotts zu sein. Das können aber auch, nennen wir es mal, "linke Moralapostel" sein. Namentlich spricht Sels von der "cancel culture" und der sogenannten "Woke"-Bewegung.
Woke steht, ganz grob gesagt, für "wach". "Wach" in dem Sinne, dass diese Leute für sich beanspruchen, ein Bewusstsein entwickelt zu haben für eindeutige gesellschaftliche Fehlentwicklungen und Ungerechtigkeiten, die ihrer Ansicht nach mehr Aufmerksamkeit verdienen: Rassismus, Diskriminierung, Ausgrenzung, Frauenfeindlichkeit, Kolonialismus...
Im Prinzip, rein inhaltlich, würde er diese Bewegung geradezu umarmen, sagt Sels. Ihr sei es gelungen, eben diese Themen auf die Agenda zu setzen. Und das sei richtig und wichtig. Aber da gebe es einen radikalen Flügel, der zunehmend die Oberhand zu gewinnen scheine, der militanter und intoleranter werde. Und der eigentlich zu einer Art "moralischer Sauberkeit" zu streben scheine. Und damit habe er so seine Probleme.
Denn: Eine radikale Einstellung, die nur noch eine, nämlich die eigene Meinung zulässt, die mache eigentlich jede Debatte unmöglich. Deswegen sein Aufruf: "Gebt auch Andersdenkenden Raum! Jemand, der wirklich seinen Standpunkt entwickeln, ausarbeiten und vertiefen möchte, der will und der braucht Gegenrede und Widerspruch. Denn nur dann kann man seinen Standpunkt anreichern und verbessern."
Und eben das, nämlich die offene, mehrstimmige Debatte, die droht uns verloren zu gehen, warnt Luc Sels. Themen wie gesellschaftliche Vielfalt, Inklusion oder auch die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit sollten aber, im Gegenteil, möglichst breit diskutiert werden. Mit allen Nuancen. Und das sei letztlich auch die Essenz der akademischen Ausbildung. "Wir bilden die Nuancierten von morgen aus", sagt Luc Sels. Nicht schwarz oder weiß, vielmehr müssen die verschiedenen Graustufen herausarbeiten.
Roger Pint
Bedenkliche Entwicklung. Meinungsfreiheit ist eben nur relativ.
Im Iran hat man die Ayatollas, in Belarus den Lukaschenko und hierzulande sind es die "Linken Moralapostel".
Zu diesem Thema gibt es ein Buch von Sahra Wagenknecht ("die Selbstgerechten"). Dort werden die Linken Moralapostel als Lifestyle-Linke bezeichnet. Sehr lesenswert.