Hunderte Menschen versuchten verzweifelt, noch in ein Flugzeug zu gelangen, um aus dem Land zu fliehen. Es gibt Berichte über Todesopfer. Experten sind sich einig: Niemand hätte damit gerechnet, dass die Taliban binnen weniger Tage Afghanistan vollständig einnehmen würden. Die Bilder der siegestrunkenen Mudjahedin im Präsidentenpalast von Kabul waren für viele westliche Staatskanzleien ein regelrechter Schock.
Jetzt müssen also quasi über Nacht allerlei Menschen aus dem Land ausgeflogen werden. Entsprechende Evakuierungspläne bestanden aber im Moment allenfalls auf dem Papier. Kommerzielle Linienflüge gibt es nicht mehr. Also muss die Armee Flugzeuge schicken.
Ermittlung der genauen Anzahl von betroffenen Belgiern
Die Frage ist erstmal: Wer muss aus Kabul herausgeholt werden? Das belgische Außenministerium weiß von 34 belgischen Staatsbürgern, die sich dauerhaft in Afghanistan aufhalten. Oft geht es um Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft. Man könne die aber nicht dazu zwingen, das Land zu verlassen, hieß es im Außenministerium.
Außerdem gibt es noch Informationen über belgische Reisende, die sich in Afghanistan aufhalten könnten. Elf Belgier haben jedenfalls entsprechende Reisepläne über die Internet-Seite Travellers-Online mitgeteilt. Eine Gruppe von fünf Belgiern habe das Land aber schon am Samstag verlassen können.
Ortshilfskräfte besonders gefährdet
Darüber hinaus gibt es aber auch noch die "Ortshilfskräfte". Hier handelt es sich um Afghanen, die vor allem die belgischen Soldaten in den letzten 20 Jahren unterstützt haben, zum Beispiel Übersetzer, Küchenbedienstete oder Fahrer. Diese Menschen laufen Gefahr, als "Kollaborateure" inhaftiert, gefoltert oder getötet zu werden. Diese Problematik stand schon seit längerer Zeit im Raum.
"Es gibt sehr viele Menschen, vor allem Übersetzer, die den belgischen Streitkräften vor Ort geholfen haben", sagte Asylstaatssekretär Sammy Mahdi in der VRT. "Die Taliban werden jetzt versuchen, diese Leute schnellstmöglich aufzuspüren. Und es ist selbstverständlich, dass Belgien diesen Menschen Schutz gewähren wird".
Das allerdings ist noch nicht wirklich passiert. Bislang sei erst ein afghanischer Übersetzer mit seiner Familie nach Belgien gebracht worden. Sammy Mahdi verweist hier aber auf das Verteidigungsministerium, das für eine mögliche Evakuierungsmission zuständig ist. Er erwarte vom Verteidigungsministerium die Liste der Namen von Menschen, denen er dann ein humanitäres Visum erteilen könne.
Vier belgische Militärmaschinen nach Afghanistan
Damit richteten sich also alle Augen auf das Verteidigungsministerium. Auch dort war es lange still geblieben. Gegen Montagmittag hieß es in einer Mitteilung aus dem Kabinett von Verteidigungsministerin Ludivine Dedonder, dass die Streitkräfte bereit seien, vier Flugzeuge in Richtung Hindukusch zu entsenden. Nur musste die Regierung dafür noch ihren Segen geben.
Das erfolgte noch am Nachmittag durch das sogenannte Kernkabinett, also den Premier und die Vizepremiers. Am Ende entschied man sich für eine Dreierflotte: Einen Militärtransporter vom Typ Airbus A400M und zwei C-130-Transportflugzeuge, die übrigens eigentlich schon im Begriff waren, ausgemustert zu werden. Die Einzelheiten der Mission müssen noch bei einer neuen Sitzung des Kernkabinetts besprochen werden.
Belgisches Mädchen in Todesangst
Das Außenministerium hatte innerhalb von 24 Stunden 47 Anfragen von Menschen aus Afghanistan bekommen, die um Hilfe bitten. Hinzu kämen noch einmal diverse Familienmitglieder. Die VRT hat mit einem belgischen Mädchen sprechen können, das sich derzeit in Kabul befindet. Es ist mit seiner Familie zu Besuch bei Angehörigen.
"Die Taliban sind zurück. Jeder bleibt drinnen, jeder hat große Angst. Wenn sie erfahren, dass man aus Europa ist, dann wollen sie einen ermorden".
Hier spricht die Todesangst. Kabul ist offensichtlich wieder die Hölle auf Erden. Zumindest für die belgischen Staatsbürger und die früheren Ortshilfskräfte gibt es Hoffnung. Man wolle schnellstmöglich einen Flughafen in der Region anfliegen, sagte Außenministerin Sophie Wilmès in der VRT. Dann wäre man schneller in Kabul, wenn sich die Möglichkeit ergibt. Wann die Evakuierungsmission anlaufen soll, ist noch unklar.
Roger Pint