Was für ein Chaos! In sozialen Medien sieht man Bilder von dramatischen Szenen, die sich gerade am Flughafen von Kabul abspielen. Menschen, die noch schnell versuchen, vor den Taliban zu fliehen; Menschen, die für die westlichen Armeen oder Organisationen gearbeitet haben, und die Schlimmstes befürchten müssen.
Das unrühmliche Ende einer Mission, an die so mancher nie wirklich geglaubt hat. Er habe 2007 mal mit einem amerikanischen General darüber gesprochen, sagte in der VRT Sven Biscop, Professor an der Uni Gent und Experte für Außen- und Verteidigungspolitik. Und dieser US-General habe sich ganz offen die Frage gestellt, was sein Land noch in Afghanistan verloren habe. Das war vor 14 Jahren. Schon damals war klar, dass Afghanistan sofort wieder kippen würde, wenn die westlichen Soldaten das Land verlassen würden.
Warum ist man doch geblieben? Nun, aus ähnlichen Gründen wie damals in Vietnam: Weil man sich nicht eingestehen wollte, dass die Soldaten, die getötet oder verletzt wurden, umsonst geopfert wurden.
Und jetzt? Jetzt stehen wir vor einem Scherbenhaufen, sind sich die Experten einig. "Wir sollten hier nicht um den heißen Brei reden", sagte in der RTBF Nicolas Gosset, Asienexperte an der Königlichen Militärakademie. "Es ist eine Niederlage auf der ganzen Linie, ein politisches, militärisches und moralisches Scheitern." Gescheitert sei im Grunde die gesamte Strategie, die der Westen in den letzten 20 Jahren in Afghanistan umzusetzen versucht hat, sagt der Experte. Bester Beweis: Die Taliban sind wieder zurück. Es ist, als hätten die letzten 20 Jahre nicht stattgefunden.
"Nichts haben wir erreicht", sagt auch Professor Sven Biscop. "Das Einzige, was wir erreicht haben, das ist das erste Ziel, das man sich gesetzt hatte: Man hat Al Qaida in Afghanistan ausgeschaltet; und später hat man auch Osama bin Laden erwischt. Aber, etwas Positives, Nachhaltiges, das hat man nicht schaffen können." Und das ist ein enormer Gesichtsverlust, fügt Sven Biscop hinzu. Der Vergleich mit Vietnam ist nicht an den Haaren herbeigezogen. Auch in Vietnam hat man versucht, eine Armee aufzubauen, hat man am Ende rund eine halbe Million Soldaten hingeschickt. Das Resultat war letztlich das gleiche.
All das wird man hinterfragen müssen, meint der Kollege Nicolas Gosset von der Königlichen Militärakademie. Wir werden die gesamte Mission analysieren müssen. Und dabei wird man sich auch die Frage nach den Verantwortlichkeiten stellen müssen: die Verantwortung des Westens auch für die Konsequenzen der neuen Situation.
Eine davon ist naheliegend: "Wir werden nie jemanden in ein Land abschieben, das nicht sicher ist", sagte Asylstaatssekretär Sammy Mahdi in der RTBF. "Und Afghanistan ist aktuell eben kein sicheres Land mehr; es gibt da keine sicheren Regionen mehr". Erste Priorität müsse jetzt sein, die Menschen zu schützen, die mit den Taliban konfrontiert sind.
Das ist ein Kurswechsel. Denn noch Ende letzter Woche hatte sich Mahdi gegen einen allgemeinen Abschiebestopp für abgewiesene Asylbewerber aus Afghanistan ausgesprochen. In der VRT wollte der CD&V-Politiker dann aber doch nicht von einem Moratorium sprechen. Vielmehr sei es in der Praxis so, dass bei der Prüfung der Akte durchaus geprüft werde, ob das Land, in das der Betreffende abgeschoben wird, auch wirklich sicher ist.
Das ist im Wesentlichen Wortklauberei; de facto wird bis auf Weiteres niemand mehr nach Afghanistan abgeschoben. Dieses Herumgeeiere kommt aber nicht von ungefähr. Denn Europa wird sich jetzt wohl auf eine neue Flüchtlingswelle gefasst machen müssen.
Roger Pint