Es war die afghanische Regierung selbst, die Anfang Juli die EU-Länder darum gebeten hatte, für die nächsten drei Monate keine abgelehnten Asylbewerber mehr zurückzuschicken. Zu gefährlich sei die Lage wegen der anhaltenden Kämpfe. Schweden und Finnland folgten diesem Aufruf umgehend. Die Niederlande und Deutschland haben sich am Mittwoch offiziell für eine Aussetzung der Abschiebungen entschieden. Am Donnerstag hat auch Frankreich mitgeteilt, dass seit Anfang Juli keine Afghanen mehr zwangsweise zurückgeschickt würden. Belgien aber will sich bislang nicht zu so etwas verpflichten.
Mehr noch, für Belgien hatte CD&V-Asylstaatssekretär Sammy Mahdi letzte Woche, als Reaktion auf die Ankündigung der afghanischen Regierung, nicht mehr bei der Rückführung mitwirken zu wollen, einen Brief an die Europäische Kommission geschickt. Darin hat Belgien gemeinsam mit Österreich, Dänemark, Griechenland, den Niederlanden und Deutschland gefordert, dass die erzwungene Rückkehr von Afghanen in ihr Heimatland eine Option bleiben müsse. Ganz offensichtlich teilten die EU-Botschafter in Kabul diese Einschätzung der Lage vor Ort aber nicht. Als Reaktion plädierten sie wiederum dafür, die Abschiebungen nach Afghanistan auszusetzen.
Sammy Mahdi seinerseits wird nicht müde, zu betonen, dass in Belgien die Entscheidung über die Dossiers afghanischer Asylbewerber ohnehin absolut von der Politik unabhängig erfolge. Dafür zuständig sei nämlich das Generalkommissariat für Flüchtlinge und Staatenlose. Mahdi besteht aber darauf, dass die Situation jedes Asylbewerbers und die Lage in dessen Heimatregion analysiert werden müssten. Man verfolge die Situation aufs Genaueste, so der Asylstaatssekretär in der VRT.
Kritik
Es sei wichtig, dass niemand in eine Region zurückgeschickt werde, in der es gefährlich sei. Das Allerwichtigste sei das diesbezügliche internationale Recht. Sprich Belgien dürfe zum Beispiel keine Afghanen dorthin abschieben, wo ihnen Tod, Folter oder Erniedrigungen drohten. Solche Gefahren bestünden aber eben nicht überall in ihrem Heimatland.
Das Generalkommissariat spreche schließlich nicht allen afghanischen Asylbewerbern ein Anrecht auf internationalen Schutz zu. Und wenn die Anträge abgewiesen würden, dann müsse die Politik eben auch die Möglichkeit haben, entsprechend zu reagieren beziehungsweise zu agieren. Und um das zu garantieren, habe er eben besagten Brief an die Europäische Kommission geschickt, so die Verteidigung Mahdis.
Die Regierungsparteien Groen und Ecolo fordern am Donnerstag aber, dass über eine Aussetzung der Abschiebungen auch aus Belgien innerhalb der Föderalregierung gesprochen werden müsse. Die beiden Parteien sind sichtlich verstimmt über das Verhalten des CD&V-Asylstaatssekretärs. Und sie sind damit nicht allein: Zuvor gab es bereits Kritik vonseiten der frankophonen Sozialisten von der PS. Die hatten ebenfalls bemängelt, dass der Asylstaatssekretär ohne Rücksprache mit den anderen Koalitionspartnern gehandelt habe.
Sondersitzung
Ein neuer Rosenkrieg innerhalb der Vivaldi-Regierung ist also zumindest nicht auszuschließen. Und das ist natürlich auch immer eine Gelegenheit für die Opposition, noch Salz in die Wunde zu reiben. Eine Gelegenheit, die sich Theo Francken von der N-VA nicht entgehen lassen wollte. Der war übrigens früher auch mal Asylstaatssekretär und ist in puncto Kontroversen ja auch kein ganz unbeschriebenes Blatt. Francken jedenfalls hat am Donnerstag über Twitter mitgeteilt, dass er beim Vlaams-Belang-Vorsitzenden des Kammerausschusses für Inneres, Ortwin Depoortere, eine verfrühte Zusammenkunft des Ausschusses beantragt habe. Unter anderem die afghanische Abschiebefrage könne nicht bis zur regulären Wiederaufnahme der Arbeit des Ausschusses im September nach der Sommerpause warten. Eine parlamentarische Kontrolle und Debatte solcher Dossiers sei in einer Demokratie essenziell, so der N-VA-Kammerabgeordnete. Und seinem Wunsch nach einer Sondersitzung des Kammerausschusses soll, wieder laut Francken, auch schnellstmöglich entsprochen werden.
Mit diversem politischem Hauen und Stechen dürfte also in den kommenden Tagen und Wochen zu rechnen sein. Wobei man eine Möglichkeit auch nicht komplett ausblenden sollte: Diverse Geheimdienste und Militäranalysten rechnen offenbar damit, dass die Taliban Kabul in 30 bis 90 Tagen überrannt haben könnten. Das könnte dann ohnehin jede weitere Diskussion über eine Aussetzung der Rückführung abgelehnter Asylbewerber aus Belgien nach Afghanistan zur Makulatur machen…
Boris Schmidt