15. Mai: Julie - das ist nicht ihr echter Name - will sich mit einem Freund auf dem Westfriedhof in Gent treffen. Die 14-Jährige ist an diesem Wochenende bei ihrer Mutter, die in der Stadt wohnt. Einmal am Treffpunkt angekommen, tauchen aber neben ihrem Bekannten noch vier weitere junge Männer auf. Und dann artet das Ganze völlig aus. Das Mädchen wird erst sexuell belästigt, dann vergewaltigt. Die Täter filmen die ganze Szene und verbreiten die Bilder danach in Sozialen Netzwerken. Vier Tage nach den schrecklichen Ereignissen auf dem Friedhof nimmt sich Julie das Leben; anscheinend ziemlich unmittelbar, nachdem sie die Bilder gesehen hatte.
Es war die Zeitung Het Nieuwsblad, die am Dienstag als erste über den Fall berichtete und die auch den Zeitablauf soweit rekonstruiert hat. Der Fall ist so unsäglich, dass er in Flandern eine regelrechte Schockwelle ausgelöst hat.
Offensichtlich ist erst nach dem Tod des Mädchens ans Licht gekommen, was sie wirklich durchmachen musste. Laut Het Nieuwsblad hatte sie sich einigen engen Freundinnen anvertraut, die die Geschichte erst nach dem Tod des Mädchens ihren Eltern erzählten. Und die gingen dann zur Polizei.
Täter festgenommen
Die Ermittler stießen schnell auf die Bilder, die die Täter aufgenommen hatten. Auf dieser Grundlage konnten die fünf jungen Männer dann auch identifiziert werden. Drei von ihnen sind minderjährig; sie wurden in eine geschlossene Jugendstrafanstalt gebracht. Die beiden volljährigen Verdächtigen sitzen in U-Haft.
Die Liste der Vorwürfe gegen die fünf jungen Männer ist lang: sexuelle Nötigung, Vergewaltigung, sowie das Aufnehmen und Verbreiten von Bildern, die die persönliche Integrität in Gefahr bringen können. Die Genter Staatsanwaltschaft fügte dann aber noch als erschwerenden Umstand hinzu, dass die Taten zum Tod des Opfers geführt haben.
Für Julie war das Ganze auf jeden Fall der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Davon ist ihr Vater überzeugt. Seine eigentlich so lebenslustige und soziale Tochter hatte sich zuletzt verändert. In den letzten Wochen vor ihrem Tod litt das Mädchen unter akuten psychischen Problemen. Nach einer kleinen Odyssee hatte man endlich einen Termin bei einem Therapeuten bekommen. Zwei Tage vor dem Termin war Julie tot. "Wäre sie nicht Opfer dieses furchtbaren Verbrechens geworden, meine Tochter wäre noch am Leben", sagt der Vater in Het Nieuwsblad.
Der tragische Tod der 14-Jährigen hat natürlich auch in ihrem erweiterten Umfeld Bestürzung ausgelöst. Das Mädchen besuchte eine Schule in Gavere, südlich von Gent, dem Wohnort ihres Vaters. "Wir haben die Direktion der Schule umgehend kontaktiert", sagte Denis Dierick, Bürgermeister von Gavere, in der VRT. Die Schülerinnen und Schüler bekommen jetzt professionelle Hilfe; nicht nur die Kinder ihres Jahrgangs, sondern auch die ein Jahr jüngeren bzw. älteren.
Dass das Mädchen die Bilder selbst gesehen hat, die ihre Peiniger ins Netz gestellt hatten, das ist laut Psychologen eigentlich das Schlimmste an einer solchen Geschichte. "Das Trauma nach einer Vergewaltigung ist an sich schon unvorstellbar groß", sagt Niels Van Paemel von der Organisation Child Focus. Wenn Minderjährige dann aber noch im Internet mit den Bildern konfrontiert werden, dann stürzt ihre Welt aber vollends in sich zusammen.
Deswegen verfüge Child Focus denn auch über einen direkten Draht zu den wichtigsten Plattformbetreibern wie Facebook oder Instagram. "Das gibt uns die Möglichkeit, Bilder auf öffentlichen Profilen zu löschen", sagt Van Paemel. "Auf diese Weise können wir wenigstens dafür sorgen, dass die Opfer von Sexualverbrechen nicht auch noch mit den Bildern konfrontiert werden." Das geht freilich nur, wenn die betreffenden Bilder auf öffentlichen Plattformen geteilt werden. Auf geschlossene Netzwerke wie Whatsapp habe man leider keinen Zugriff.
Kein Einzelfall
Julie ist kein Einzelfall. Immer wieder werden gerade Minderjährige das Opfer von sexueller Ausbeutung im Internet. Das kann viele Formen haben: vom unerlaubten Verbreiten von Nacktbildern bis hin zu Erpressung. Dieses Phänomen habe seit Beginn der Corona-Krise um mehr als die Hälfte zugenommen, sagt Niels Van Paemel von Child Focus. 2020 habe man 465 solcher Fälle registriert. Bei Julie ging dem Ganzen dann aber noch eine Gruppenvergewaltigung voraus...
Die zuständige Ratskammer wird am Mittwoch entscheiden, ob die Untersuchungshaft der beiden volljährigen Verdächtigen verlängert wird.
Roger Pint