Man soll das Richten Richtern überlassen. Insofern: Ob das Schwurgericht von Tongeren nun eine Mörderin oder eine Unschuldige für 30 Jahre ins Gefängnis geschickt hat, das ist hier nicht die Frage. Jetzt gilt allein die juristische Wahrheit und das ist eben der Schuldspruch vom Mittwoch.
Das Richten Richtern überlassen. Genau da liegt aber für so manchen der wunde Punkt. In Tongeren waren es eben keine Magistrate, keine Profis, die über das Schicksal von Els Clottemans entschieden haben, sondern ganz gewöhnliche Leute, Menschen wie Du und Ich.
Ist es dafür kein vollwertiges Urteil? Macht allein dieser Umstand den Schuldspruch anrüchig? Die Antwort ist: Nein! Man möchte fast sagen: im Gegenteil!
Es gibt eben Fälle, wo ein und derselbe Tatbestand nicht logisch-automatisch auf ein eindimensionales Motiv schließen lässt, wo man nicht klar zwischen Schwarz und Weiß trennen kann, in denen man nicht stur nach Katalog urteilen kann. Konkret: Ein Mord ist nicht der andere. Mal abgesehen von der Frage, ob Vorsatz im Spiel war, oder nicht: ein Mensch, der etwa jahrelang von einem anderen misshandelt wurde und am Ende seinen Peiniger tötet, handelte aus einem ganz anderen psychologischen Rahmen heraus, als jemand, der aus eiskaltem Kalkül sein Opfer aus dem Weg räumt.
Also: ein Mord gehört in seinen menschlichen Kontext gesetzt. Und Belgien ist eins der Länder, wo man diese Beurteilung eben... dem gesunden Menschenverstand überlässt, mit Namen: dem Volk, repräsentiert durch zwölf Geschworene. Die sollen sich also –im wahrsten Sinne des Wortes- "ein Urteil bilden".
Was im Fall Clottemans die Menschen so bewegt ist aber unter anderem der Umstand, dass es keine Beweise, keine verräterische DNA, keine Zeugen, kein Geständnis gab. Also: die Meinung der Geschworenen war letztlich allein ausschlaggebend für das Urteil, das Clottemans für 30 Jahre ins Gefängnis beförderte.
Darf das sein? Gehört so etwas ins 21. Jahrhundert? Gegenfrage: was spricht dagegen?
Zunächst war es nicht der erste Indizienprozess, in dem der Angeklagte am Ende verurteilt wurde. Ohne auf den Inhalt der Akte einzugehen: für eine Verurteilung reicht eine Verkettung von indirekten Beweisen, wenn sie denn in einem schlüssigen Verhältnis zueinander stehen.
Können das Laienrichter beurteilen? Warum nicht? Hier geht es doch in der Regel um Ur-Menschliches, muss man jedenfalls kein Jura-Professor sein, um sich über ein mögliches Motiv oder den Charakter eines Menschen ein Bild zu machen.
Doch zugegeben: In unserer Emokratie, wo sich Emotionen mehr und mehr auf Augenhöhe mit der Vernunft bewegen, stellt sich wenigstens eine grundsätzliche Frage: Kann ein Geschworener eigentlich noch unvoreingenommen in ein solches Verfahren gehen? Ähnlich wie im Fall Dutroux gab es in Flandern, erst recht in Limburg, wohl niemanden, der noch nie etwas von dem Fallschirmmord gehört hatte. Im Gegenteil: es gab von Anfang an ein fast schon beispielloses Getrommel um den Fall. Einige Zeitungen glichen –erst recht in den letzten Wochen- in Aufmachung und Ton fast schon den englischen Revolverblättern. Es war ein Medienpranger; an dem stand meist Els Clottemans.
Niemand kann behaupten, mit all dem nicht in Berührung gekommen zu sein; es sei denn, er war die letzten 4 Jahre auf dem Mond. Allerdings: das gilt –letztlich- auch für einen Berufsrichter, der ja schließlich auch nicht auf besagtem Mond lebt. Der ist zugegeben –als Profi- vielleicht unempfänglicher für derlei emotionale Inkubation.
Doch auch hier spricht zumindest nichts gegen Schwurgerichte: in der Jury sitzen schließlich zwölf Leute. Hier entscheidet die Mehrheit; kommt es zu einer 7 zu 5 Situation, dann wird das Richterkollegium hinzugezogen.
Klar schützt das auch nicht vor kollektiver emotionaler Beeinflussung. Man versetze sich in die Lage: einmal platt ausgedrückt: eine junge, grazile Frau hinterlässt auf einer Anklagebank ohne Zweifel einen anderen Eindruck als ein Zwei-Meter-Mann mit Narbengesicht.
Doch gibt es ja jetzt noch eine Art zusätzlichen Sicherheitsriegel: es reicht nicht mehr die "innerste Überzeugung". Seit dem Taxquet-Urteil des Straßburger Menschenrechtsgerichtshof kann sich eine Jury nicht mehr auf die Antwort "Ja oder Nein" beschränken, sondern muss ihren Schuldspruch begründen, argumentativ untermauern. Das Bauchgefühl alleine reicht also nicht mehr. Das bedeutet auch, dass der Verurteilte weiß, warum er ins Gefängnis wandert; und übrigens auch der Bürger. Genau das hätte man sich nämlich in dem Verfahren gewünscht, das Auslöser für die Neuregelung war: Richard Taxquet war im Prozess um den Mord an André Cools verurteilt worden; wer hätte nicht gerne gewusst, was die Jury letztlich zu dem Schuldspruch motiviert hat?
Soll das also heißen, dass eine Geschworenen-Jury immer richtig liegt? Nein! Gegenfrage: hätte ein Berufsrichter im Fall Clottemans anders entschieden? Und läge er damit automatisch näher an dem, was wirklich geschah?
Selbst in der Niederlage brachte es Vic Van Aelst, der Anwalt von Els Clottemans, exemplarisch auf den Punkt: Die Geschworenen hätten Clottemans verurteilt; trotz seiner erbitterten Verteidigung; aber die Jury habe nunmal recht, Punkt.
bild:belga