"Passen Sie auf sich auf und sorgen Sie auch für die anderen". Ein Satz, der für die amtierende Premierministerin Sophie Wilmès zu einem Ritual wurde und zugleich zu einem Leitmotiv für 2020: Einem Jahr, dem schon jetzt ein Platz in den Geschichtsbüchern sicher ist.
Die ersten Meldungen über ein neuartiges Coronavirus, das in China aufgetaucht sei, gab es schon in den letzten Tagen von 2019. Damals ahnt niemand, dass sich daraus die schlimmste Krise der Nachkriegszeit entwickeln würde.
2020 beginnt auch eigentlich "ganz normal". Zunächst mit den üblichen neuen Gesetzen und Maßnahmen, die zu Beginn eines frischen Jahres in Kraft treten. Diesmal waren es die Umweltzonen - insbesondere in Antwerpen, Gent und Brüssel, die also vor allem alte, "dreckige" Dieselmotoren mit der Zeit aus den Stadtzentren verbannen sollen.
Zwickmühle bei der Regierungssuche
In der Politik beginnt das neue Jahr, wie das alte aufgehört hat. Sieben Monate nach der Wahl ist immer noch keine neue Koalition in Sicht. Nach wie vor ist eine geschäftsführende Regierung im Amt - unter der Leitung von Sophie Wilmès. Es ist ein Minderheitskabinett aus nur drei Parteien, die im Parlament lediglich über rund die Hälfte der erforderlichen Sitze verfügen. Das allerdings ist in gewisser Weise zum Normalzustand geworden.
Anfang Januar sind die Vorsitzenden von CD&V und MR, Joachim Coens und Georges-Louis Bouchez, in königlichem Auftrag unterwegs, um zu versuchen, den Boden zu bereiten für eine neue Koalition. Doch ist die Situation nach wie vor festgefahren. Am 13. Januar haben die beiden Informatoren Termin im Palast. MR-Chef Georges-Louis Bouchez ist demonstrativ zuversichtlich: "Knapp acht Monate nach der Wahl ist jetzt endlich der Moment gekommen, sich an einen Tisch zu setzen."
Doch fragt man sich, wo dieser Optimismus herkommen soll. Denn das Terrain ist durch diverse Vetos vermint: Die PS, die größte frankophone Partei, schließt eine Koalition mit der N-VA, also der größten flämischen Partei, mehr oder weniger aus.
Es habe nicht mehr viel Sinn, mit der N-VA weiter Gespräche über eine mögliche Koalition zu führen, sagt ein entschlossener PS-Chef Paul Magnette Anfang des Jahres. 30 Versammlungen habe es gegeben. Dutzende Stunden habe man zusammengesessen. Resultat: Null.
Die N-VA ist in Bezug auf die PS nicht ganz so kategorisch. Um eine Mehrheit ohne die N-VA auf die Beine zu stellen, braucht man aber auf jeden Fall die CD&V: Die wiederum will nur in eine Koalition mit der N-VA einsteigen. An dieser Zwickmühle sollte sich über Monate hinweg so gut wie nichts verändern.
Der König verlängert nichtsdestotrotz noch einmal die Mission von Bouchez und Coens. Eine andere Option hat er ohnehin nicht wirklich. Beim Neujahrsempfang im Palast appelliert er aber noch einmal an die Kompromissbereitschaft aller Beteiligten. "Die Zeit ist reif, um die Bemühungen der vergangenen acht Monate zu versilbern. Um Vetos fallen zu lassen und um endlich eine vollwertige Regierung zu bilden."
Des Königs viertes Kind
König Philippe hat aber in diesen Tagen auch noch familiäre Sorgen. Am 27. Januar läuft eine bemerkenswerte Eilmeldung über die Ticker: Per Kommuniqué hat König Albert II. eingeräumt, dass er tatsächlich der leibliche Vater von Delphine Boël ist. Man könnte sagen: Er leugnet nicht mehr das Offensichtliche. Sein Anwalt, Alain Berenboom, formuliert es anders: Sein Mandant beuge sich den wissenschaftlichen Fakten. Er werde entsprechend auch nicht mehr die Vaterschaftsklage anfechten.
Tatsächlich liegt der Befund eines DNA-Testes vor, zu dem der König per Gericht "verdonnert" worden war. Da gibt es also nichts mehr zu leugnen. Delphine Boël wird damit zum vierten Kind von König Albert.
Ab jetzt hat sie die gleichen Rechte wie die drei Kinder aus der Ehe des Königs. Zugleich endet damit für sie eine jahrelange juristische Odyssee. "Der Kampf war richtig, sie habe Recht bekommen", wird sie später sagen. Sie fühle sich jetzt besser, glücklicher, freier.
In diesen ersten Wochen des Jahres geht das Leben noch seinen Lauf. Das Coronavirus ist nicht wirklich ein Thema. Allenfalls blickt man "interessiert" auf die chinesische Stadt Wuhan, wo das Virus zuerst aufgetreten ist und wo die Lage zunehmend außer Kontrolle gerät.
Hierzulande sorgt vor allem ein Schwurgerichtsprozess in Gent für Aufsehen. Auf der Anklagebank: Drei Ärzte, die sich verantworten müssen wegen des Todes einer jungen Frau. 2010 hatte die 38-jährige Tine Nys Sterbehilfe beantragt.
Die drei Ärzte hatten das Gesuch angenommen. Genau das hätten sie aber nie tun dürfen, ist die Familie der Frau überzeugt. Die Kriterien seien nicht erfüllt gewesen. Es ist das erste Mal seit der Legalisierung der Sterbehilfe im Jahr 2002, dass ein solcher Fall vor Gericht landet.
Der Genter Prozess facht auch die gesellschaftliche Debatte über die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe wieder neu an. Ende Januar: Das Urteil. Freispruch auf der ganzen Linie, was einer der drei Anwälte der Ärzte dann auch gleich in einen breiteren Kontext setzt. Walter Van Steenbrugge, der einen der Ärzte vertreten hat, schlägt genau in diese Kerbe: Das Urteil sei nicht nur eine Erleichterung für seinen Mandanten, sondern für alle Ärzte, die solche Entscheidungen treffen müssen.
Wenn es hier einen Schuldspruch gegeben hätte, dann hätte das viele Ärzte in eine schwierige Situation gebracht. Die Familie legt allerdings Einspruch ein. Der Prozess wird neu aufgerollt werden müssen.
Das Virus erreicht Belgien
In der Zwischenzeit, Ende Januar, ziehen dann doch von Osten her dunkle Wolken auf: Das neuartige Coronavirus, das in China inzwischen für viele Opfer und auch für drastische Quarantäne-Maßnahmen sorgt, beginnt, um sich zu greifen. Viele Staaten beginnen, ihre Landsleute aus China auszufliegen.
Auch Belgien organisiert eine Rückholaktion. Zwölf Belgier sollen ausgeflogen werden. Nach einem ersten Schnelltest würden sie dann für 14 Tage in Quarantäne genommen, versichert Gesundheitsministerin Maggie De Block. Doch dann, am 4. Februar, diese Meldung: Einer der Wuhan-Heimkehrer ist tatsächlich mit dem Coronavirus infiziert. Der neuartige Erreger hat nun also auch Belgien erreicht.
Der Mann kommt auf eine Isolierstation im Brüsseler Krankenhaus Saint-Pierre. Schneller Befund, schnelle Reaktion! Alles gut gegangen, loben sich die zuständigen Behörden. Wir haben die Lage unter Kontrolle, sagte Maggie De Block vor ausländischen Pressevertretern. Panik wäre wohl gefährlicher als das Virus an sich.
Zu diesem Zeitpunkt weiß man es freilich noch nicht besser. Dennoch: Diese beschwichtigende Haltung wird noch zu einem Markenzeichen der Gesundheitsministerin. Besagter Wuhan-Heimkehrer sollte aber tatsächlich zunächst der erste und einzige amtlich registrierte Corona-Patient in Belgien bleiben.
Keine Zwangsheirat zwischen N-VA und SP
Auch politisch beginnt der Februar mit einem Paukenschlag: Völlig überraschend werden die Informatoren Joachim Coens und Georges-Louis Bouchez am Palast vorstellig. Wesentlich früher als geplant legen sie dem König ihren Abschlussbericht vor. Im Anschluss betraut König Philippe den amtierenden Justizminister und CD&V-Spitzenpolitiker Koen Geens mit einer neuen Mission. Er sei damit beauftragt worden, die nötigen Initiativen zu ergreifen, um die schnelle Bildung einer neuen Regierung zu ermöglichen.
Es ist wohl kein Zufall, dass der König einen CD&V-Politiker in die Arena schickt. Die flämischen Christdemokraten stehen nach wie vor im Zentrum des Spiels, da die Partei sich weigert, das Fahrwasser der N-VA zu verlassen. Eben das machte die Bildung einer Regierung ohne die N-VA bislang unmöglich. Geens bleibt aber dieser Linie treu. Er redet auch wieder prioritär mit PS und N-VA.
Bis es dem PS-Vorsitzenden dann anscheinend aber endgültig zu bunt wird. "Ich glaube, dass es ganz deutlich ist, dass es zwischen der PS und der N-VA keinerlei Übereinstimmungen gibt", sagt Paul Magnette. Man versucht hier eine Zwangsheirat zustande zu bringen. Aber das kann nicht gelingen. Und irgendwann muss man dann eben auch einsehen, dass es Alternativen gibt. Die muss man ausprobieren."
Koen Geens reagiert sofort. Als direkte Reaktion auf diese Aussagen erscheint er noch am selben Abend am Palast, wo er den König darum bittet, von seiner Mission entbunden zu werden. "Er habe das Gefühl, dass von der PS ein definitives Veto ausgesprochen worden ist gegen die N-VA".
Dabei war er gerade mal gut zwei Wochen in dieser Rolle unterwegs. Man wird den Eindruck nicht los, dass Geens nur die erste Gelegenheit genutzt hat, um diese heikle Mission wieder loszuwerden. Der König, der mit der Benennung von Geens hoch gepokert hatte, steht vor den Scherben seines Überraschungscoups.
Die Lage wird immer aussichtsloser. Keine Option zwingt sich mehr dem König auf. Die Parteien haben "zugemacht". König Philippe zieht daraufhin einen in solchen Fällen "klassischen" Joker: Er betraut die Vorsitzenden von Kammer und Senat mit einer Schlichtungsmission. Das sind die beiden Liberalen Sabine Laruelle und Patrick Dewael. Es ist der 19. Februar: Der König drückt die Pausentaste.
Virus rückt näher
In dieser Zeit haben die Menschen ohnehin andere Sorgen. Das Coronavirus kommt näher. Während hier Karneval gefeiert wird, beginnen die Infektionszahlen in den Skigebieten in Österreich und Norditalien durch die Decke zu gehen. Vor Ort geht die "Gaudi" aber munter weiter. Das österreichische Ischgl gilt inzwischen als "DIE" europäische Brutstätte, von wo aus sich das Coronavirus über halb Europa verbreitet hat.
Der erste "nicht-chinesische" belgische Corona-Fall, der also auf eine Ansteckung in Europa zurückgeht, der lässt nicht lange auf sich warten. Es ist der zweite infizierte Belgier nach dem Wuhan-Rückkehrer. Deswegen sind wir jetzt in einer neuen Phase, so Maggie De Block. Sie wusste nicht, wie Recht sie hatte.
Der März war wohl der "bekloppteste" Monat seit Jahrzehnten. Auf den zweiten Corona-Fall folgen schnell die nächsten. Nachwirkungen der Skiferien. Vier Tage später steht der Zähler schon bei 50. Nach der Besorgnis weht plötzlich ein Hauch von Hysterie durch das Land.
Bitte keine Panik
Gesundheitsministerin Maggie De Block bleibt aber bei ihrer Kommunikationslinie: "Es handelt sich um eine neue, aber milde Grippe", sagt De Block noch am 5. März in der Kammer. "Lassen Sie uns entsprechend besonnen mit dem Thema umgehen. Die im Moment zu beobachtende Panikmache macht die Menschen nur unnötig verrückt."
Im Nachhinein ist man immer schlauer und inzwischen weiß man, dass die chinesischen Behörden damals längst nicht die ganze Wahrheit gesagt haben, was tatsächlich den Blick der Wissenschaft auf das neuartige Virus und seine Folgen verzerrt hat. Zu diesem Zeitpunkt sind in Norditalien bereits knapp 150 Menschen an Covid-19 gestorben.
Aus der Lombardei kommen verstörende Bilder von überfüllten Krankenhäusern. Schon in diesen Märztagen werfen viele der Gesundheitsministerin vor, das Problem kleinzureden. Auch auf den flagranten Mangel an Masken und Schutzkleidung reagiert sie nur zögerlich. Die Hausärzte und auch die Krankenhäuser schlagen jedenfalls schon längst Alarm.
Mal abgesehen von betroffenen Ländern wie Italien ist die Welt aber immer noch hin- und hergerissen. Es ist ein Spagat zwischen Besorgnis einerseits und dem Bestreben, keine Panik zu schüren auf der anderen Seite.
Am 10. März ruft die geschäftsführende Premierministerin Sophie Wilmès den Nationalen Sicherheitsrat zusammen. Dieses vergleichsweise neue Gremium kannte man bislang eigentlich nur im Zusammenhang mit der terroristischen Bedrohung. Diesmal steht aber nicht der Terrorismus im Mittelpunkt der Beratungen, sondern das Coronavirus.
"Der Nationale Sicherheitsrat kommt zusammen wegen des Coronavirus? "Ist die Lage denn inzwischen so dramatisch?", fragt ein VRT-Journalist den flämischen Ministerpräsidenten Jan Jambon vor Beginn der Sitzung. Jambons Antwort fällt ziemlich patzig aus: "Wenn wir nicht gemeinsam beraten würden, dann würde man uns vorwerfen, den Ernst der Lage zu unterschätzen. Und jetzt setzen wir uns zusammen und dann ist es auch nicht gut!", sagt ein hörbar gereizter Jan Jambon und bringt damit das damalige Spannungsfeld auf den Punkt.
Empfehlungen
Der Nationale Sicherheitsrat beschließt erstmal nur eine Reihe von Empfehlungen. Eine davon richtet sich an die Bevölkerung und dabei fällt erstmals ein "außerirdischer" Begriff, der inzwischen längst in den Alltagswortschatz eingegangen ist: Social Distancing. Also Maßnahmen, die dafür sorgen sollen, dass sich die Menschen nicht zu nahe kommen.
Es bleibt bei Phase 2: Man versucht, das Virus einzudämmen. Weil dafür jetzt zusätzliche Maßnahmen nötig sind, spricht man von einer Phase 2+. Unter anderem wird davon "abgeraten", Innenveranstaltungen mit mehr als 1.000 Teilnehmern zu besuchen.
"Abgeraten": Eine schwammige Vorgabe, die zudem auf dem Terrain auch viel Verwirrung stiftet. Den Gesundheitsexperten ist das in jedem Fall zu wenig. Sie hoffen, dass diese "Empfehlung" konsequent umgesetzt wird.
"Wir müssen jetzt solidarisch sein", sagt der Virologe Marc Van Ranst. "Die Gesundheitsversorgung und die Gesundheit jedes Einzelnen sind jetzt vorrangig. Nicht dass wir in ein paar Wochen dastehen und sagen: 'Hätten wir nur.'"
Notregierung
Eine 90-jährige schwerkranke Frau ist das erste Todesopfer, erklärt Hervé Deladrière, der medizinische Leiter der Brüsseler Krankenhäuser Iris-Süd. Noch am selben Tag kommen noch zwei weitere Todesopfer hinzu.
Am Donnerstag, den 12. März, kommt der Nationale Sicherheitsrat erneut zusammen. Diesmal macht man Nägel mit Köpfen: Ab der darauffolgenden Woche wird der Unterricht ausgesetzt. Alle Sport-, Kultur- und Folkloreveranstaltungen müssen unabhängig von ihrer Größe abgesagt werden. Nachtclubs, Cafés und Restaurants müssen schließen. Einschneidende Maßnahmen, sagt die geschäftsführende Premierministerin Sophie Wilmès. Aber die Lage sei inzwischen ernst.
So geht es ins Wochenende - das wohl verrückteste politische Wochenende seit Jahren, wie die Presse später urteilen sollte. Sophie Wilmès ist ja immer noch "geschäftsführende Premierministerin". Nur ist den Parteien in den letzten Tagen klargeworden, dass die Situation so ernst ist, dass das Land eine wirklich handlungsfähige Regierung braucht.
An diesem Wochenende werden also die Köpfe zusammengesteckt. "Eine Notregierung sei in der Mache", so hört man. "Eine Notregierung mit PS und N-VA", heißt es sogar. Doch verliert man sich dann doch wieder in kleinlichen Streitereien. Vor allem PS und MR geraten aneinander. Irgendwann ist die Dynamik raus. Am Sonntag zieht PS-Chef Magnette live im Privatsender RTL-TVI die Reißleine, nimmt von einer Regierung mit der N-VA wieder Abstand.
Es kommt Plan B: Das ist eine Weiterführung der aktuellen Equipe, die dann aber im Parlament durch große Teile der Opposition unterstützt werden soll: Quasi eine geduldete Minderheitsregierung, aber eben eine vollwertige Regierung, betont MR-Chef Georges-Louis Bouchez, der dem Parlament auch das Vertrauen aussprechen wird.
Obendrauf kommen dann noch Sondervollmachten. Heißt: Sophie Wilmès kann mit ihrer Equipe quasi durchregieren, muss nicht für jede Dringlichkeitsmaßnahme erst die Zustimmung des Parlaments einholen. Diese Sondervollmachten sind befristet auf sechs Monate - inklusive einer ersten Prüfung bereits nach drei Monaten.
Unser Land ist konfrontiert mit einer nie dagewesenen, weltweiten sanitären Krise, sagt König Philippe in einer Fernsehansprache. Dass sich das Staatsoberhaupt direkt an die Bevölkerung wendet, das kommt wirklich nicht sehr oft vor. König Philippe appelliert vor allem an das Verantwortungsbewusstsein der Bürger, insbesondere das der jungen Menschen. Und er dankt auch all jenen, die sich im Kampf gegen das Virus Tag und Nacht engagieren. Belgien befindet sich jetzt in einer entscheidenden Phase im Kampf, die weitere Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen.
Tags drauf, der 17. März: Sophie Wilmès bittet in der Kammer um das Vertrauen der Abgeordneten. Eine historische Sitzung, in allen Belangen: Aus einleuchtenden Gründen hat man es vorgezogen, dass nur die Fraktionsvorsitzenden und die Vizepremiers der Regierungserklärung beiwohnen.
Sophie Wilmès gibt sich demütig: Sie sei sich dessen bewusst, welche Umstände ihr zu ihrer Rolle verholfen haben. Sie sei sich auch der Herausforderungen bewusst. Und sie sei fest entschlossen, sie anzugehen: Jetzt geht es einzig und allein um die Gesundheit und den Schutz der Bevölkerung.
Nicht mehr, wie ursprünglich vereinbart, zehn, sondern nur neun Parteien sprechen der neuen Regierung ihr Vertrauen aus: Die N-VA ist ausgeschert. Die Nationalisten haben anscheinend Angst, dass hier und jetzt eine Regierung etabliert wird, die "gekommen ist, um zu bleiben". Das wird zwar ausdrücklich ausgeschlossen: Wilmès verspricht, nach spätestens sechs Monaten, also im September, die Vertrauensfrage zu stellen. Dennoch sehen wir hier tatsächlich schon die spätere Vivaldi-Koalition; nur die CDH und DéFI werden im Herbst nicht mehr dabei sein.
Lockdown im März
Für solche Erwägungen bleibt aber keine Zeit. Der Baum brennt! Die Infektionszahlen steigen immer schneller. Gleich im Anschluss an die Regierungserklärung tritt der Nationale Sicherheitsrat zusammen - zu einer historischen Sitzung.
Harte Maßnahmen werden getroffen, um die Verbreitung des Virus einzudämmen: Alle nicht-unentbehrlichen Geschäfte werden geschlossen. Und es gelten quasi ab sofort strenge Ausgangsbeschränkungen. Die Bürger sind dazu angehalten, möglichst zuhause zu bleiben, sagt Sophie Wilmès. Es gehe darum, so viel wie eben möglich Kontakte zu anderen Menschen zu vermeiden, abgesehen vom engen Familienkreis. Dies mit Ausnahme der absolut nötigen Bewegungen.
Ein "Lockdown" im damals noch geläufigen Sinne ist es nicht. Aus heutiger Sicht war es schon ein extrem harter Lockdown. Man darf höchstens noch in Begleitung eines Familienmitglieds oder einer befreundeten Person im Öffentlichen Raum unterwegs sein. Und noch etwas: "Alle Menschenansammlungen sind untersagt", sagt Wilmès mit Nachdruck.
Die epidemiologische Situation ist Mitte März eigentlich noch vergleichbar mit der "Ruhe vor dem Sturm": Die Infektionszahlen liegen bei rund 250 neuen Fällen pro Tag. Aus heutiger Sicht ist das wenig. Nur gab es damals noch nicht annährend die Testkapazitäten von heute. Eine andere Zahl, die hat auch schon im März nicht gelogen: Die Zahl der Krankenhausaufnahmen steigt exponentiell: Sie verdoppelt sich in dieser Zeit alle zwei Tage.
Schon gleich zu Beginn des Lockdowns etabliert sich denn auch ein neues Ritual: Im ganzen Land werden vielerorts allabendlich um 20:00 Uhr die Rettungskräfte beklatscht, all die Menschen, die in den Krankenhäusern um das Leben der Patienten kämpfen.
Trotz der Ausgangsbeschränkungen steigen die Zahlen erstmal weiter. Das ist nicht anormal, schließlich gibt es die Inkubationszeit. Am 27. März entscheidet der Nationale Sicherheitsrat, die Maßnahmen noch einmal zu verlängern - mindestens bis Mitte April.
"Alle sind sich einig, dass es noch viel zu früh ist, um zu sagen, dass die Epidemie unter Kontrolle ist", warnt Sophie Wilmès. Der Lockdown wird also erstmal zum Dauerzustand. Die nächsten sechs Wochen beschränken sich für viele auf vier Wände, die eigenen. Gespenstische Atmosphäre: Kaum ein Auto ist unterwegs. Einkaufen im Supermarkt gleicht zunächst einer regelrechten Schlacht ums Toilettenpapier.
Zu wenig Masken
Und zu dieser Zeit sind Masken Mangelware: Kaum ein Bürger verfügt über eine. In den Krankenhäusern und auch in den Alten- und Pflegeheimen ist es nicht viel besser. Wie sich herausstellt, wurde die strategische Reserve vernichtet, die mit Blick auf eine vor Jahren drohenden Grippeepidemie angelegt worden war. In erster Linie Schutzmasken also, die jetzt schmerzlich fehlen. Zudem mangelt es dramatisch an Testkapazitäten. Resultat: Viele Pflegekräfte werden quasi ungeschützt und ungetestet auf ihre Schutzbefohlenen losgelassen. Das rächt sich.
Im April erreicht die Zahl der Covid-Toten astronomische Dimensionen: Schon Mitte des Monats wird die 5000er Marke überschritten. In absoluten Zahlen sind in Belgien damit zu diesem Zeitpunkt mehr Menschen an den Folgen von Covid-19 gestorben als etwa in Deutschland. Legt man das auf die Gesamtbevölkerung um, dann gibt es nirgendwo auf der Welt eine höhere Sterberate als in Belgien.
Übersterblichkeit
Zwar stellt sich heraus, dass in Belgien quasi alle Opfer in die Statistik aufgenommen werden, sobald auch nur der Verdacht auf Covid besteht, die unverhältnismäßig hohe Übersterblichkeit gilt aber inzwischen als erwiesen. Und zumindest eine Erklärung liegt in den katastrophalen Bedingungen, die in den Seniorenheimen geherrscht haben. Hinter den Mauern der Wohn- und Pflegezentren haben sich dramatische Szenen abgespielt. Die Bewohner sterben buchstäblich reihenweise.
Das Pflegepersonal ist verzweifelt. Im April muss in einigen Brüsseler Heimen sogar die Armee eingesetzt werden. Die Nichtregierungsorganisation Amnesty International wird später von eindeutigen Menschenrechtsverletzungen sprechen.
In dieser Zeit werden vor allem zwei Männer zu regelrechten Stars: Emmanuel André und Steven Van Gucht geben tagtäglich die neuesten Zahlen des Instituts für Volksgesundheit durch. Steigen die Zahlen noch? Ist der Höhepunkt erreicht? Sieht man nicht doch langsam ein Abflachen der Kurven? Das tägliche Bulletin der beiden wird fast schon in den Rang des Wetterberichts erhoben. Mitte April können die beiden endlich die ersehnte Aufklarung verkünden: Die Zahlen sinken, wenn auch nur langsam.
Sinkende Zahlen und dabei wunderschönes Frühlingswetter. Einige werden unruhig. Am Osterwochenende werden so viele Regelverstöße festgestellt, wie noch nie. In Sozialen Netzwerken regieren einige Krankenpfegerinnen wütend: "Sorgt dafür, dass wir in den Krankenhäusern nicht überlastet werden und haltet Euch an die Regeln!". "Eigentlich sollten die Menschen mal sehen, was wir täglich zu sehen bekommen", sagt eine andere. "Dann wüssten sie, warum die Maßnahmen nötig sind und dass man tatsächlich am besten zuhause bleibt."
Die Akzeptanz beginnt zu bröckeln, die Politik reagiert. Beim Nationalen Sicherheitsrat vom 15. April wird entschieden, dass die Gartencenter, Baumärkte und Containerparks wieder geöffnet werden: Unter denselben Bedingungen wie die Supermärkte.
Eine andere Entscheidung sorgt aber für eine enorme Polemik, die stellvertretend steht für das Kompetenzwirrwarr, das das Krisenmanagement oft sehr schwierig macht. Beschlossen wird nämlich auch eine Lockerung der Besuchsregeln für Alten- und Pflegeheime. "Wie bitte?!", reagieren die für die Materie zuständigen Gemeinschaftsregierungen?
Und auch in den Einrichtungen selbst ist man fassungslos. Es stellt sich heraus: Grob gesagt, dachte jeder vom jeweils anderen, er werde wohl die Entscheidung mit den Betroffenen abgestimmt haben. Resultat: Die Maßnahme wird ausgesetzt.
Inzwischen ist der Wurm drin. Nach der Periode der akuten Krise beginnt die Aura der Regierung zu verblassen. Die Maskensaga nimmt kein Ende, eine Panne jagt die nächste.
Das Ganze gipfelt in einem denkwürdigen Nationalen Sicherheitsrat. "Denkwürdig", wegen der katastrophalen Kommunikation. 24. April, ein Freitagabend. Das ganze Land wartet auf die Pressekonferenz, die aber einfach nicht beginnen will. Erst gegen 22:00 Uhr treten die Regierungschefs vor die Kameras. Um dann eine langatmige, verworrene und zudem nicht gerade publikumsgerechte Präsentation zum Besten zu geben, mit Grafiken, die kein Mensch entziffern kann. Ein Musterbeispiel für gut gemeinte, aber schlecht umgesetzte Pädagogik.
Exitstrategie
Rein inhaltlich gibt es aber durchaus die erhofften Lichtblicke. Eine Exitstrategie wird vorgestellt: Ab dem 4. Mai wird gelockert, werden die Ausgangsbeschränkungen in vier Schritten aufgehoben. Es gibt einen Zeitplan, nur hänge alles ab von der Entwicklung der epidemiologischen Lage, betonte Premierministerin Sophie Wilmès. Das sei eine sehr heikle Operation. Entsprechend sei auch nichts in Beton gegossen, auch nicht der Zeitplan:
Abgesehen von der beißenden Kritik an der eigentlichen Pressekonferenz ist die Reaktion zwiegespalten: Die einen hätten sich mehr erhofft, vor allem, weil die sogenannte Kontaktblase immer noch sehr klein bleibt. Andere fragen sich hingegen: Ist Belgien wirklich bereit für diese Phase der Lockerungen?
Die Kritiker sind nicht überzeugt, können nur feststellen, dass keiner der drei Stützpfeiler steht: Es gibt nicht genug Masken, nicht genug Tests und auch das Contact-Tracing ist noch nicht einsatzbereit.
Davon abgesehen: Auch das Krankenhauspersonal ist am Ende. Und die Pflegekräfte sind sauer: Seit Jahren fordern sie mehr personelle und materielle Mittel. Um ihre Wut zum Ausdruck zu bringen, produzieren die Mitarbeiter des Brüsseler Saint-Pierre-Krankenhaus am 16. Mai ein starkes Bild: Beim Besuch der Premierministerin wenden sie Sophie Wilmès des Rücken zu.
Dennoch: Der Zeitplan kann im Wesentlichen eingehalten werden. Nacheinander werden die Unternehmen wieder hochgefahren, die Geschäfte wieder geöffnet und auch die Schulen können den Unterricht zumindest teilweise wieder aufnehmen. Der Monat Mai ist der Monat der Lockerungen und der Diskussionen darüber.
Sektoren, die sich erst noch gedulden müssen, machen Druck. Manche würden gerne mehr lockern. Wieder andere finden die Kontaktblase zu klein bzw. die Regeln in Bezug auf die Kontaktbeschränkungen zu kompliziert.
Regelrecht Zoff gibt es um die Problematik der Grenzöffnungen. Wie viele Länder hatte auch Belgien seine Außengrenzen geschlossen. In einem so kleinen Land sind die Grenzen nie sehr weit und sie zu überqueren gehört längst zur Normalität. Entsprechend laut die Forderung, die Kontrollen aufzuheben.
"Herr Minister, haben Sie mir überhaupt zugehört?". Sichtbar sauer reagiert die ostbelgische Abgeordnete Kattrin Jadin auf die Antworten, die Innenminister Pieter De Crem gerade in der Kammer auf ihre Fragen gegeben hat. Im Grunde waren es keine wirklichen Antworten. De Crem redete um den heißen Brei herum, er will sich offensichtlich nicht um eine schnelle Öffnung der Grenzen bemühen.
Damit könne sie sich nicht zufrieden geben, sagte Jadin in ihrer Replik. Sie verweist darauf, dass der Innenminister durchaus die Möglichkeit hätte, die Grenzen zu den einen Ländern früher zu öffnen als zu den anderen. Im Namen aller, die eine wirkliche Perspektive und eine aufbauende Botschaft erwarten, wünsche sie sich nachdrücklich eine klarere Antwort. Und doch sollte es noch genau einen Monat dauern, bis die Grenzen Mitte Juni wieder vollständig geöffnet wurden.
Es sind Monate des regelrechten Ausnahmezustands. Klar, dass die Krise natürlich der Wirtschaft einen beispiellosen Schlag versetzt. Von Anfang an ist die Regierung darauf bedacht, allerlei Überbrückungshilfen vorzusehen, angefangen natürlich mit einer Förderung diverser Kurzarbeitsformeln, über die Möglichkeit der Aussetzung von Kreditrückzahlungen bis hin zu Direkthilfen.
Milliarden werden in die Hand genommen. Die entsprechenden Entscheidungen trifft der sogenannte Superkern: Die Regierungsspitze, flankiert von den Vertretern aller zehn Parteien, die die Sondervollmachten mittragen.
Viele Unternehmen können damit "künstlich" am Leben gehalten werden, die einen mehr, die anderen weniger. Dennoch prognostizieren Ökonomen einen regelrechten Kahlschlag: Bis zu 200.000 Jobs könnten der Krise zum Opfer fallen.
Ein Sektor ist allerdings naturgemäß besonders stark betroffen: Die Luftfahrt. Der Brussels Airport ist weitgehend im Wachkoma. Brussels Airlines gerät im April in eine gefährliche Schieflage. Die Muttergesellschaft Lufthansa verordnet dem Unternehmen im Mai eine Rosskur. 1.000 Arbeitsplätze sollen abgebaut werden. Schon vor der Krise hatten wir Rentabilitätsprobleme, sagt Geschäftsführer Dieter Vranckx. Jetzt - durch Corona - sind die Probleme nur noch größer geworden.
Parallel dazu hat Brussels Airlines eine Beihilfe in Höhe von knapp 300 Millionen Euro beantragt. Die Föderalregierung muss sich mit Lufthansa auf die Modalitäten einigen. Die Verhandlungen sollten sich noch über Monate hinziehen, aber letztlich kommt es im August immerhin zu einer Einigung. Brussels Airlines ist erstmal gerettet.
Mit der Phase der Lockerungen hat man auch wieder mehr Zeit, um sich mit der politischen Lage zu beschäftigen. Vor genau einem Jahr haben wir gewählt. Zwar gibt es eine vollwertige Regierung, doch ist das ja nichts anderes als ein "Corona-Kabinett", an dem ja ein Verfallsdatum hängt: Ende September ist Schluss. Wenn man bis dahin eine "echte" Regierung auf die Beine stellen will, dann sollte man jetzt damit anfangen, haben sich wohl die Vorsitzenden der beiden sozialistischen Parteien gedacht.
Mitte Mai: Die beiden sozialistischen Parteien PS und SP.A ergreifen - als stärkste politische Familie des Landes - die Initiative und beginnen mit informellen Gesprächen. Die Hoffnung: Vielleicht hat ja Corona alles verändert. "Hat es!", sind sich N-VA und PS tatsächlich auch mal einig.
Die Krise habe inhaltlich eine neue Realität geschaffen, sagen fast gleichlautend der N-VA-Vorsitzende Bart De Wever und der PS-Chef Paul Magnette. Wobei das ja eine naheliegende Feststellung ist, aber immerhin. Jedenfalls ist das eine der politisch konstruktiveren Phasen des Jahres.
Black Lives Matter
Gesellschaftlich hingegen brodelt es. Am 25. Mai wird der Afroamerikaner George Floyd in der US-Stadt Minneapolis bei einer Festnahme getötet. Videobilder zeigen, wie er von einem Polizisten auf dem Boden fixiert wird der sein Knie auf Floyds Hals drückt. Ein klarer Fall von Polizeigewalt, der weltweit für Empörung sorgt. Auch in Brüssel wollen Anti-Rassismus-Organisationen eine Protestkundgebung abhalten. Nach langem Hin und Her wird die auch genehmigt.
Wegen der Corona-Einschränkungen soll es aber eine statische Demo sein. Zum Leidwesen der Veranstalter kommt es ganz anders. Nicht nur, dass zu viele Menschen auf zu engem Raum versammelt sind, im Anschluss kommt es auch noch zu Krawallen.
Mehrere Dutzend junge Männer schlagen alles buchstäblich kurz und klein. Eine Geschäftsstraße im sogenannten Matongé-Viertel in der Brüsseler Stadtgemeine Ixelles wird regelrecht verwüstet.
Immer noch im Fahrwasser der Ereignisse in den USA entbrennt auch hierzulande eine Debatte über den Umgang mit der eigenen Geschichte. In Belgien fokussiert sich das auf eine Person: König Leopold II. Der steht ja quasi symbolhaft für die Gräueltaten während der belgischen Kolonialherrschaft in der heutigen Demokratischen Republik Kongo. Und auch hierzulande kommt es zu einem "kleinen" Bildersturm. So ein bisschen überall im Land werden Standbilder des bärtigen Königs beschmiert, beschädigt, manchmal abgebrochen.
Die Aktivisten verlangen eine "Dekolonisierung" des Öffentlichen Raums und eine wirkliche Auseinandersetzung mit der historischen Schuld des Landes. Ein nicht unerheblicher Teil dieser Forderungen wird aber tatsächlich schon wenig später erfüllt.
Indépendance Cha Cha
"Zufälligerweise" jährt sich nämlich am 30. Juni zum 60ten Mal die Unabhängigkeit des Kongo. Zu diesem Anlass wendet sich König Philippe in einem Brief an den kongolesischen Präsidenten Félix Tshisekedi. Und der Nachkomme von Leopold II wählt überraschend starke und klare Worte: "Ich möchte mein tiefstes Bedauern bekunden für diese Wunden der Vergangenheit", schreibt der König.
Wunden, die leider auch heute noch spürbar seien etwa durch Akte von Diskriminierung, die noch allzu präsent seien in unserer Gesellschaft. Er jedenfalls werde weiterhin gegen alle Formen von Rassismus kämpfen. Philippe schreibt seinen Brief "in eigenem Namen". Mehr als sein "Bedauern" zum Ausdruck bringen, kann er da nicht. Eine Entschuldigung, die wäre "im Namen des Landes" erfolgt. Dafür hatte der König schlichtweg kein Mandat.
Auf der politischen Bühne bekommt Philippe derweil "Konkurrenz". Plötzlich laufen nämlich gleich drei Könige durch die Rue de la Loi. Mitte Juni hatten die beiden sozialistischen Vorsitzenden ihre "Schnüffelrunde" beendet. Ohne wirklich konkretes Ergebnis. Wohl auch, um die politische Lufthoheit zurückzugewinnen, ergreifen jetzt die Präsidenten der drei noch verbleibenden Regierungsparteien die Initiative: also Georges-Louis Bouchez, MR, Joachim Coens, CD&V und der neue OpenVLD-Vorsitzende Egbert Lachaert, der erst im Mai zum Nachfolger von Gwendolyn Rutten gewählt wurde.
Die drei Könige
Wie ihre roten "Vorgänger" haben auch diese drei Könige kein wirkliches Mandat, sie sind nicht im Auftrag des Königs unterwegs, da ja eigentlich eine vollwertige Regierung im Amt ist, wenn auch mit einem Verfallsdatum: Bis Ende September muss eine Lösung her. Und der neue OpenVLD-Vorsitzende Egbert Lachaert sagt einen Satz, der in jedem anderen Land normal wäre: Ziel müsse es sein, eine Koalition auf die Beine zu stellen, die über eine Mehrheit verfügt.
Mit diesem Ziel vor Augen machen sich also die drei Könige an die Arbeit. In ihrer schier unendlichen Kreativität hat die belgische Politik eine neue Koalitionsformel erfunden: Im Raum steht ein Bündnis aus den drei Regierungsparteien CD&V, OpenVLD und MR, plus N-VA, SP.A und CDH. Das sind die Farben auf der Flagge des US-Bundesstaats Arizona. Die beiden Juniorpartner SP.A und CDH allerdings, die zieren sich.
Es ist eigentlich die unbeschwerteste Zeit des Jahres. Anfang Juni konnten schon die Restaurants, Gaststätten und Hotels wieder öffnen. Das freilich unter strikten Auflagen. Die Corona-Zahlen sind auf einem beherrschbaren Niveau, das Wetter ist toll, die Menschen können sich also viel draußen aufhalten, was das Ansteckungsrisiko ja deutlich verringert.
Doch ist irgendwie der Wurm drin. Das Tracing, also die in einer solchen Situation so wesentliche Kontaktpersonennachverfolgung, das will nicht richtig funktionieren. Außerdem scheint die Politik quasi immer einen Schritt zu spät zu kommen. Die Vorsichtsmaßnahmen, die für Urlaubsrückkehrer gelten sollen, die werden erst um den 10. Juli in die Wege geleitet. Und von da an springt die sogenannte Reiseampel munter von einer Farbe zur anderen, was für eine riesige Verwirrung sorgt.
Hinzu kommt: Die Beziehungen zwischen der Politik und den Gesundheitsexperten verschlechtern sich zusehends. Die Virologen, Infektiologen, Epidemiologen, Vakzinologen, Leute wie Marc Van Ranst, Erika Vlieghe, Marius Gilbert, Yves Coppieters, Pierre Van Damme, sie sind Dauergäste in den Medien. Und es ist wohl auch diese Omnipräsenz, die für die Spannungen sorgt. Hier geht es letztlich auch um die Frage, wer die Richtung vorgibt: Die Politik oder eben doch die Fachleute. Mitte Juli ziehen die Experten die Alarmglocke. Allen voran Marc Van Ranst und Erika Vlieghe lassen kein gutes Haar an der Politik. Zu viele zuständige Machtebenen, zu viele Arbeitsgruppen, kein wirklicher Kapitän am Steuer.
Belgien, das Land der neun Gesundheitsminister
Das Fazit der Experten jedenfalls: Belgien sei nicht auf die zu erwartende Zweite Welle vorbereitet. Und auch diese Feststellung klingt in heutigen Ohren wie eine Prophezeiung. Schon in diesen Juli-Tagen sind die Warnungen der Experten wie ein böses Omen. Die Zahlen beginnen wieder zu steigen, schneller, immer schneller.
Der Nationale Sicherheitsrat zögert. Erst im zweiten Anlauf werden wieder einige Schrauben angezogen. Unter anderem wird die Maskenpflicht auf Teile des Öffentlichen Raums ausgeweitet. Auch müssen Kunden jetzt nach dem Besuch in einer Kneipe oder einem Restaurant ihre Kontaktdaten hinterlegen. Den Gesundheitsexperten reichen diese Maßnahmen nicht. Die Verbindung zwischen Wissenschaft und Politik ist definitiv gestört.
Krisenstimmung, auch am Nationalfeiertag, der natürlich auch im Corona-Modus stattfindet. Bemerkenswert: König Philippe ergreift das Wort, was, zumindest in den letzten Jahrzehnten, auch nicht mehr vorgekommen ist. Erst erinnerte er noch einmal an die Opfer der Epidemie, dann bedankt er sich bei all jenen, die unser aller Leben geschützt haben: Zuallererst beim medizinischen Personal, und dann bei all denjenigen, die dazu beigetragen haben, diese schwierige Zeit zu überstehen.
Kein Feuerwerk natürlich am Nationalfeiertag, dafür hatte es aber am Vorabend einen politischen Paukenschlag gegeben. Plötzlich standen nämlich zwei Männer vor dem Palast, die man dort nicht erwartet hatte, geschweige denn gemeinsam. Die beiden Vorsitzenden von N-VA und PS, Bart De Wever und Paul Magnette, werden überraschend von König Philippe empfangen und auch gleich mit einer königlichen Mission betraut: Grob gesagt sollen sie an einer gemeinsamen Koalition arbeiten.
Allein die Tatsache, dass beide gemeinsam zum Palast gegangen sind, zeigt wohl, dass diese Arbeit schon begonnen hat. Damit sind die drei Könige abrupt entthront, jetzt betreten also mit De Wever und Magnette die beiden Schwergewichte die Arena: Ein Tandem, das man eigentlich nicht mehr für möglich gehalten hatte. Beide sind nach eigener Aussage zu dem Schluss gekommen, dass das Land eine wirklich handlungsfähige Regierung braucht. Und zwar schnell. Sie geben sich 50 Tage. 50 Tage, um sich zusammenzuraufen und die Grundzüge eines gemeinsamen Programms auszuarbeiten. "Die Alternative, das sind Neuwahlen".
Die Arbeiten gehen überraschend schnell voran. Anfang August zeigt sich Bart De Wever zuversichtlich. "Die Regierung müsste eigentlich im August stehen", sagt De Wever. Das wären also: Sozialisten, Christdemokraten und N-VA - plus wahrscheinlich die Liberalen. Es wäre kriminell, wenn das jetzt noch jemand sabotieren würde.
Konkret denkt De Wever da an den MR-Chef Georges-Louis Bouchez. Man unterstellt ihm, dass er das Unternehmen am liebsten scheitern sähe, weil seine MR im Moment sechs Minister stellt, inklusive der Premierministerin. Bouchez könnte also ein Interesse daran haben, dass es so bleibt.
Ab jetzt spricht man von einer Fünfer-Blase: Der Corona-Wortschatz hat schon Einzug in den politischen Jargon gehalten. Diese Fünferblase, das sind die Sozialisten, die Christdemokraten und die N-VA. Diese fünf Parteien haben keine Mehrheit. Man bräuchte also entweder die Unterstützung der Liberalen oder die der Grünen. Eigentlich würde ein zusätzlicher Partner reichen.
Die Grünen sind nicht zu trennen, also versucht man, die beiden liberalen Parteien auseinanderzudividieren. Nur haben sich MR und OpenVLD offensichtlich auch die Treue geschworen. Zwischen beide passt kein Blatt Papier. Also treffen sich De Wever und Magnette doch mit den Grünen; das Ziel ist offensichtlich, den Liberalen Angst zu machen und sie doch zum Mitmachen zu bewegen.
Irgendwann wird es den Umbuhlten zu bunt. Die Blauen und die Grünen veröffentlichen ein gemeinsames Kommuniqué. Das ist doch eine Überraschung, weil beide Familien eigentlich mehr trennt als vereint. Die vier Parteien machen klar, dass sie keine Lust mehr haben, sich gegeneinander ausspielen zu lassen.
Außerdem gibt es inhaltliche Differenzen. Auf dem Tisch liegt lediglich eine vage Note von De Wever und Magnette. Man sieht sofort, dass es ein Deal eben zwischen diesen beiden ist: Sozialistische Programmpunkte auf der einen Seite, die Aussicht auf eine Staatsreform auf der anderen. Nur: Eben darüber scheint man nicht mehr reden zu dürfen.
OpenVLD-Chef Egbert Lachaert bringt es auf den Punkt: "Die Note von De Wever und Magnette ist uns einerseits zu sozialistisch; und andererseits ist der Entwurf in institutionellen Fragen zu sehr angelehnt an das N-VA-Programm. Beides muss angepasst werden. Und, solange das nicht passiert, solange machen wir nicht mit".
Mitte August: De Wever und Magnette scheinen in einer Sackgasse zu stecken. Und tatsächlich: Beide gehen wenig später zum König und bitten ihn, von der Mission entbunden zu werden. Die von vielen bevorzugte Option einer Achse zwischen den beiden größten Parteien aus dem Norden und dem Süden des Landes, die sollte sich damit endgültig in Luft auflösen.
Was jetzt? Der König entscheidet sich für einen Winkelzug, den man schon häufiger gesehen hat: Er betraut denjenigen mit einer Mission, auf den sich beim letzten Anlauf am Ende alles fokussiert hat. OpenVLD-Chef Egbert Lachaert hatte sich bis zuletzt geweigert, die MR fallenzulassen, also soll er jetzt nach einer Lösung suchen. Parallel dazu lässt aber auch die Coronakrise dem Land keine Ruhe. Die Sommermonate waren ein Auf und Ab. Naja, vor allem ein Auf.
Immer wieder neue Hotspots. In Antwerpen muss zwischenzeitlich eine Ausgangssperre verhängt werden. Kaum hat sich die Lage dort beruhigt, da gehen die Zahlen in Brüssel und Lüttich steil nach oben. Das Ganze begleitet vom andauernden Streit zwischen den Gesundheitsexperten und der Politik. Im Juli hatte der Nationale Sicherheitsrat noch die Schrauben wieder angezogen, um quasi dieselben im August wieder zu lockern.
Die Kontaktblase bleibt bei fünf Personen, betont Premierministerin Sophie Wilmès am 20. August. Fünfer-Kontaktblase, das heißt ja, dass man seine engen Kontakte auf fünf Personen beschränken muss, bei denen man also den Sicherheitsabstand nicht einhalten muss. In der Praxis erscheint dieses Konzept inzwischen vielen Menschen zunehmend abstrakt, um es mal diplomatisch auszudrücken. Corona-Müdigkeit hat sich breit gemacht.
Viele Sektoren und auch die Bürger wünschen sich mehr Luft zum Atmen. Immer wieder kommt es zu groben Verstößen gegen die Corona-Regeln; das wunderbare Sommerwetter sorgt zudem für zum Teil chaotische Szenen in den Küstenorten, bei denen auch keinerlei Abstandsregeln mehr eingehalten werden. Die Politik befindet sich ganz deutlich zwischen Hammer und Amboss.
Die Menschen sind es leid, parallel dazu schlagen die Gesundheitsexperten Alarm. Zwar sinkt im August die Zahl der Neuinfektionen- doch liegt sie nach internationalen Maßstäben viel zu hoch. Nur ein Beispiel: Am 21. August liegt die sogenannte Inzidenz, also die Zahl der Neuinfektionen je 100.000 Einwohner, in Brüssel je mehr als 120: Brüssel ist damit auf der europäischen Karte eine dunkel-braune Zone, sagt Sciensano-Sprecher Steven Van Gucht.
120 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner, in anderen Ländern wie etwa Deutschland wäre das Grund genug für einen lokalen Lockdown. Aber: Man will eben lieber das Glas halbvoll sehen. Und tatsächlich: Noch sind die Zahlen zwar hoch, sie entgleisen aber nicht.
Das Ende der Ferienzeit rückt näher. Alles blickt schon auf den bevorstehenden Schulanfang. Aber auch auf die Rue de la Loi, wo ja die Uhr schon immer lauter tickt. Noch einen Monat hat man Zeit, dann wird Sophie Wilmès im, Parlament die Vertrauensfrage stellen. Und bis dahin braucht man eine Nachfolgeequipe, die also die Regierungsgeschäfte übernehmen kann. Das nach Möglichkeit mit einer Mehrheit im Parlament.
Vivaldi-Koalition
OpenVLD-Chef Egbert Lachaert arbeitet inzwischen an einer Lösung, die er noch vor einigen Monaten strikt abgelehnt hatte: Vivaldis Vier Jahreszeiten. Vier Jahreszeiten für vier politische Familien: die Sozialisten, Liberalen, Christdemokraten und Grünen, die ungefähr so unterschiedlich sind wie eben die vier Jahreszeiten. Wobei man sich aussuchen darf, wer denn da der Winter sein soll.
Frage ist nur: Wird die CD&V diesmal in diesem Orchester mitspielen? Denn: Vivaldi stand schon häufiger im Raum; nur hatten die flämischen Christdemokraten bislang immer darauf bestanden, dass die neue Koalition in Flandern eine Mehrheit haben müsse. Heißt: Die N-VA müsse mit von der Partie sein, zumal als größte flämische Partei. Aber spätestens nach dem letzten Anlauf von Bart De Wever und Paul Magnette hat wohl jeder verstanden, dass eine Formel um die Achse PS-N-VA nicht funktioniert.
Ende August: Egbert Lachaert ist zuversichtlich: Mit viel Respekt für die Befindlichkeiten aller könne man eine Einigung hinbekommen. "Die nächsten Tage sind wohl entscheidend". Und die nächsten Tage sind tatsächlich wegweisend. Die CD&V lässt ihre Bedenken fallen. "Die Beteiligung der N-VA an einer Regierung mache er nicht mehr zur Bedingung", sagt CD&V-Chef Joachim Coens am 2. September. Die CD&V sei nicht das Anhängsel einer anderen Partei.1
Damit ist der Weg frei. Zwei Tage nach dieser Öffnung, am 4. September, ernennt der König zwei Vorregierungsbildner: Egbert Lachaert bleibt, hinzu kommt der junge SP.A-Vorsitzende Conner Rousseau. Unter ihrer Führung nehmen die Vivaldi-Parteien Verhandlungen auf. Am Ende sind es sieben Parteien; die frankophonen Christdemokraten bleiben in der Opposition. Sie haben weniger als einen Monat.
In dieser Zeit sorgt aber noch eine ganz andere Geschichte für mächtig Schlagzeilen. Ende August tauchen schockierende Bilder auf, die an den Fall George Floyd in den USA erinnern. Sie zeigen einen brutalen Polizeieinsatz in einer Arrestzelle am Flughafen von Charleroi. Ein Mann wird von mehreren Beamten sehr energisch überwältigt und brutal zu Boden gedrückt. Währenddessen machen andere offensichtlich dumme Scherze. Und dann zeigt zu allem Überfluss noch eine Polizistin den Hitlergruß. Wie sich herausstellt sind die Bilder schon gut zweieinhalb Jahre alt. Der Mann in dem Video, das ist der Slowake Jozef Chovanec. Und er hat diesen Einsatz nicht überlebt.
Was ist da passiert? Nun, grob gerafft: Anscheinend hat der Mann einen Tobsuchtsanfall bekommen. Die Hintergründe sind noch nicht geklärt. Er hat sich also gewisse Verletzungen tatsächlich selbst beigebracht. Das erklärt aber längst nicht alles. Die Frau des Opfers, Henrieta Chovancová, hatte schon gleich nach dem Vorfall Anzeige erstattet, danach aber nichts mehr gehört. Sie fordert endlich Klarheit über den Tod ihres Mannes.
Sie wolle endlich wissen, warum das alles ihrem Mann zugestoßen sei. Und warum sich die Polizeibeamten so verhalten hätten. Warum sie ihrem Mann nicht geholfen hätten.
Brisant ist der Fall auch deswegen, weil die Polizeiführung offenbar nichts von der ganzen Geschichte wusste. Er habe diese Bilder nie gesehen, sagt André Desenfants, der zuständige Direktor und Nummer zwei der Föderalen Polizei.
Desenfants kündigt an, sein Amt für die Dauer der internen Untersuchung ruhen zu lassen. Später stellt sich heraus, dass der damalige Innenminister Jan Jambon sehr wohl informiert wurde. Er habe aber die Bilder nicht gesehen, wird sich Jambon rechtfertigen. Aus dem Bericht sei die wirkliche Tragweite des Falls nicht hervorgegangen.
Schulanfang im September
Im September wird währenddessen weiterverhandelt. Die Vivaldi-Koalition scheint Gestalt anzunehmen. Mehr denn je wirkt die aktuelle Regierungsmannschaft wie auf Abruf. Parallel dazu hat die Schule wieder angefangen. Irgendwie wirkt es wie der Versuch, freilich mit Einschränkungen, aber doch ein halbwegs normales Leben zu führen. Schon im Sommer hatte Premierministerin Sophie Wilmès die Parole ausgegeben, dass man das Krisenmanagement hinter uns lassen und zum Risikomanagement übergehen sollte.
Bei alledem scheinen aber viele vergessen zu haben, die Zahlen im Auge zu behalten. Mitte September schrillen die Alarmglocken. Pro Tag werden jetzt 1.000 Neuinfektionen gezählt. Tendenz steigend. Eine Woche später, am 23. September, kommt der Nationale Sicherheitsrat wieder zusammen: Zum ersten Mal seit einem Monat. Der eine oder andere rechnet mit einer Verschärfung der Maßnahmen, eben weil die Zahlen immer weiter steigen. Doch irgendwie vermittelt Sophie Wilmès bei der Pressekonferenz den Eindruck, dass nach wie vor Lockerungen angesagt sind. Ein Bespiel: Jeder darf ab jetzt engeren Kontakt mit bis zu fünf Personen haben.
Wichtig ist hier zunächst, was Wilmès nicht gesagt hat. Konkret: Das Wort "Kontaktblase" ist verschwunden. Abgesehen von der Semantik gibt es aber auch einen wesentlichen inhaltlichen Unterschied zur bisherigen Situation: Diese Empfehlung von maximal 5 engeren Kontakten, die gilt ab jetzt pro Person und nicht mehr pro Haushalt. Und eine Verpflichtung ist es auch nicht mehr - nur noch eine Empfehlung.
Viele Gesundheitsexperten sind rasend. Einige von ihnen treten sogar in einen Streik, weigern sich, die neuen Maßnahmen in den Medien zu erläutern, weil sie sie nicht nachvollziehen können. Auch aus den Krankenhäusern hagelt es Kritik. Diese Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats vom 23. September sehen viele inzwischen als "verpasste Chance" und das ist noch diplomatisch ausgedrückt.
Die Politik zieht in diesen Tagen die Blicke auf sich. Die noch amtierende Premierministerin Sophie Wilmès soll eigentlich um den 20. September die Vertrauensfrage stellen. Eine Mehrheit im Parlament gewährt ihr aber einen Aufschub. Eben, um den Vivaldi-Verhandlungspartnern noch ein bisschen mehr Zeit zu geben.
Neuer Stichtag ist der 1. Oktober. Alles scheint erstaunlich harmonisch und glatt zu verlaufen, mal abgesehen davon, dass Egbert Lachaert positiv auf Corona getestet wird. Kurz vor der Ziellinie gibt es dann aber doch noch ein ernstes Zerwürfnis. Am 20. September kommt es zum Eklat: Die beiden Vorregierungsbildner wollen hinschmeißen. Und wieder scheiden sich die Geister an MR-Chef Georges-Louis Bouchez. Der hatte in einem Interview ziemlich ausgeteilt, hatte sogar behauptet, dass sich die Vivaldi-Parteien im Grunde noch auf gar nichts geeinigt hätten.
Das Vertrauensverhältnis ist zerrüttet. König Philippe bittet die beiden Vorregierungsbildner aber, es doch noch einmal zu versuchen. Er glaube zwar, dass es unmöglich ist, das Vertrauen wiederherzustellen. Aber wenn der König eine Bitte äußert, dann könne man die nicht abschlagen, sagte der SP.A-Vorsitzende und Vorregierungsbildner Conner Rousseau.
Und das vermeintlich Unmögliche wird tatsächlich möglich gemacht. Georges-Louis Bouchez entschuldigt sich und bekennt sich zu den bislang erzielten Absprachen. Tags drauf ernennt der König zwei Regierungsbilder: PS-Chef Paul Magnette und OpenVLD-Schwergewicht Alexander De Croo. Jetzt geht es tatsächlich auf die Zielgerade. Zwar gibt es auch da noch kurze Momente der Dramatisierung. Das liegt irgendwie in der Natur der Sache.
Eine Woche später, 1. Oktober, Frist eingehalten: Alexander De Croo leistet als der neue Premierminister des Landes in den drei Landessprachen den Eid auf die Verfassung. Am 3. Oktober spricht das Parlament der neuen Equipe das Vertrauen aus. Zwei Jahre nach dem Sturz der Regierung Michel hat das Land endlich wieder eine handlungsfähige Regierung, die sich auf eine Mehrheit im Parlament stützen kann.
Doch muss die Vivaldi-Koalition gleich einen Brand löschen. Eben, weil sich alles auf die Regierungsbildung fokussiert hatte, gab's einen Moment des Vakuums. Und in dieser Zeit sind die Corona-Zahlen völlig entgleist. Täglich werden um die 2.500 Neuansteckungen registriert.
Schon am 6. Oktober, keine Woche nach der Einsetzung der Regierung, kommt der Konzertierungsausschuss ein erstes Mal zusammen. Das ist im Übrigen einer der sichtbarsten Unterschiede zur Vorgängerequipe: es ist nicht mehr der Nationale Sicherheitsrat, der die Entscheidungen trifft, sondern eben der Konzertierungsausschuss, in dem aber auch die Vertreter aller Regierungen des Landes vertreten sind.
"Die Situation in Belgien ist sehr besorgniserregend", sagt Premierminister Alexander De Croo mit ernster Miene. "Alle Zahlen zeigen steigende Kurven, da müssen wir gegensteuern". Ein Hauch von Déjà-Vu; so mancher fühlt sich an den Monat März erinnert.
Und genau darauf wird es hinauslaufen, zumindest gefühlt. Der Konzertierungsausschuss beschränkt sich zunächst noch auf zaghafte, eher symbolische Verschärfungen. Doch steigen die Zahlen weiter, die der Neuansteckungen verdoppelt sich inzwischen innerhalb von sieben Tagen, warnt Sciensano-Sprecher Steven van Gucht Mitte Oktober.
Tendenz: weiter steigend!
Am 16. Oktober verordnet der Konzertierungsausschuss wieder die Schließung der Kneipen und Restaurants, fast auf den Tag genau sieben Monate nach dem ersten Shutdown. Hinzu kommt eine nächtliche Ausgangssperre. Die Entscheidung aus dem Mund des neuen Gesundheitsministers Frank Vandenbroucke.
Doch die Zahlen steigen immer noch weiter, sie gehen regelrecht durch die Decke. In der zweiten Oktoberhälfte werden an manchen Tagen über 20.000 Neuinfektionen gezählt; nirgendwo in Europa ist die Lage schlimmer. Viele Krankenhäuser stoßen an ihre Grenzen; es herrscht höchste Alarmstufe. Am 23. Oktober, eine Woche nach dem letzten Konzertierungsausschuss, werden die Maßnahmen erneut nachgeschärft. Sportwettkämpfe müssen ohne Publikum stattfinden, bzw. werden ganz ausgesetzt.
Die Wallonische Region beschließt noch einmal strengere Maßnahmen. Zwischen 22:00 und 6:00 Uhr morgens darf also niemand mehr das Haus ohne triftigen Grund verlassen. Auch die Regeln für den Amateursport und das Hochschulwesen werden noch einmal verschärft.
Die Region Brüssel wird am darauffolgenden Tag dem Beispiel folgen. Offensichtlich hatte der flämische Ministerpräsident Jan Jambon im Konzertierungsausschuss weiterführende Maßnahmen blockiert, weil die Situation in Flandern "nicht ganz so dramatisch" sei wie im südlichen Landesteil. Man müsse ja nicht schon anfangen zu löschen, wenn das Haus noch nicht brennt
Drei Tage nach diesem berüchtigten Satz scheint das Haus aber dann doch zu brennen; auch Flandern schärft die Maßnahmen nach. Was bleibt, das ist eine traurige Kakophonie.
Wieder eine Woche nach dem letzten Konzertierungsausschuss kommen die Vertreter der Regierungen des Landes erneut zusammen.
30. Oktober: Ein verschärfter Lockdown wird verhängt, sagt Premierminister Alexander De Croo. Heißt vor allem: alle "nicht unentbehrlichen" Geschäfte werden geschlossen; auch sogenannte "nicht-medizinische" Berufe dürfen ihre Tätigkeit nicht mehr ausüben; gemeint sind insbesondere Frisör- und Schönheitssalons. Das ist im Wesentlichen die Situation wie im Frühjahr. Im Gegensatz zum ersten Lockdown gelten aber keine Ausgangsbeschränkungen am Tage. Dennoch: Das soziale Leben wird wieder heruntergefahren. Diese Regeln werden gleich für sechs Wochen gelten. Bis zum 13. Dezember. Mindestens. Auch die Schulferien werden um einige Tage verlängert.
Der neue Lockdown fühlt sich nicht ganz so drastisch an wie die Zeit im Frühjahr. Eben, weil sogenannte nicht notwendige Fortbewegungen erlaubt bleiben. In den Krankenhäusern ist die Lage demgegenüber nochmal schlimmer. Dramatische Szenen spielen sich in einigen Kliniken ab. Laetitia Degl'innocenti, Pflegerin im Jolimont-Krankenhaus in La Louvière, wird zum Gesicht dieses verzweifelten Kampfes: "Wir müssen immer wieder den Menschen sagen, dass wir ihnen nicht helfen können", sagt sie in einer RTBF-Reportage und verliert dann die Fassung. "Das ist so schwer! Und das geht alles so schnell: Heute sehen wir einen Patienten, morgen wird er schon beatmet, und übermorgen ist er tot."
In einigen Krankenhäusern ist man nicht mehr sehr weit entfernt von der Triage: Man ist fast in der Situation, in der man sich entscheiden muss, wen man noch behandeln KANN und wen leider nicht.
Mitten in dieser düsteren Zeit gibt es dann aber doch einen Lichtblick. Am 9. November kündigt das deutsche Unternehmen Biontech einen zu 95 Prozent wirksamen Corona-Impfstoff an, der zusammen mit dem US-Konzern Pfizer in den nächsten Wochen auf den Markt gebracht werden kann, wenn man die entsprechenden Zulassungen bekommen hat.
Als einen "Lichtblick" würde der eine oder andere wohl auch ein Ereignis in den USA bezeichnen. Am 3. November finden die Präsidentschaftswahlen statt. Wegen der enorm hohen Anzahl an Briefwahlstimmen muss die Welt tagelang auf ein Ergebnis warten. Amtsinhaber Donald Trump verliert am Ende deutlich, will aber bis heute seine Niederlage nicht eingestehen. Die Aussicht auf einen US-Präsidenten Joe Biden lässt in Europa vielerorts die Herzen höher schlagen. "Biden steht für Multilateralismus; und das ist für ein kleines Land wie Belgien eine gute Neuigkeit", sagt Premier Alexander De Croo.
Und auch an der Heimatfront gibt es dann doch mal gute Neuigkeiten. Im November zeigt sich eine spektakuläre Schubumkehr. Die Corona-Zahlen sinken erfreulich schnell, um sich dann allerdings auf einem immer noch viel zu hohen Niveau einzupendeln. Lockerungen sind denn auch, wenn überhaupt, nur sehr bedingt möglich. Genau das ist denn auch das Ergebnis des Konzertierungsausschusses von Ende November: Die "nicht-unentbehrlichen" Geschäfte werden immerhin wieder geöffnet.
Aber es bleibt bei den strengen Kontaktbeschränkungen. Auch für die Festtage am Ende des Jahres. Kaum ist diese Entscheidung gefällt, da spekulieren doch schon wieder einige Parteipräsidenten über mögliche Lockerungen. Premier Alexander De Croo bleibt aber dabei: "Ehrlich gesagt: Nein, es wird keine Lockerungen für die Weihnachtszeit geben". Und dabei ist es bekanntlich auch geblieben.
Knuffelkontakt
In diesem Zusammenhang fällt immer mal wieder ein Wort: Der "Knuffelkontakt", eine Wortschöpfung von Gesundheitsminister Vandenbroucke, dieser Begriff wird regelrecht zum Exportschlager und zum Wort des Jahres in Flandern.
In den letzten Wochen des Jahres macht noch ein zweites Wort die Runde: "Lockdown-Party". Viele Menschen sind inzwischen "Corona-müder" denn je. Die Polizei hat alle Hände voll zu tun, um illegale Zusammenkünfte zu beenden. Und doch endet das Jahr eigentlich mit einigen optimistischen Noten.
Impfstoff als Lichtblick
"Wir haben entschieden, den ersten Covid-19-Impfstoff für die EU zuzulassen". Sichtlich glücklich verkündet EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am 21. Dezember, dass ihre Behörde dem Pfizer Impfstoff die Markzulassung erteilt hat. Kurz zuvor hatte die Europäische Arzneimittelagentur EMA die eingehende Prüfung des Präparats abgeschlossen.
In den letzten Tagen dieses vermaledeiten Jahres können schon die ersten Chargen verimpft werden. In allen EU-Ländern, zur gleichen Zeit: Den Impfstoff, den die Kommission für alle bestellt hat. Auch für die EU ein erfreulicher Abschluss eines Jahres, in dem man -zumindest in der Corona-Krise- nicht immer durch einheitliches Vorgehen geglänzt hat.
Apropos EU: Auch ihren Haushaltsstreit hat die Union kurz vor knapp im Dezember beilegen können. Und unter dem Weihnachtsbaum lag dann unverhofft sogar doch noch ein Brexit-Abkommen.
Und an der Coronafront? Da sorgt zwar eine neue Mutation, die in Großbritannien aufgetreten ist, noch einmal kurz vor Weihnachten für mächtig Unruhe. Immerhin sinken die belgischen Corona-Zahlen aber wieder. Doch unterm Strich ist es immer eine tragische Bilanz: Fast 20.000 Menschen sind in Belgien an den Folgen einer Covid-19-Erkrankung gestorben.
Voraussichtlich in der ersten Woche des Jahres dürfte der Konzertierungsausschuss entscheiden, wie es nun weitergehen wird. Eine wirkliche Exitstrategie gibt es noch nicht; doch es dürfte lange dauern, bis wieder alle ihre Tätigkeit aufnehmen können, die im Moment nicht arbeiten können.
Auch im nächsten Jahr werden wir wohl erst noch mit Einschränkungen leben müssen; die Impfungen werden voraussichtlich Monate in Anspruch nehmen. Und parallel dazu wird sich die Regierung vor allem um die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Krise kümmern müssen.
Die Wirtschaft hat arg gelitten, die Staatsfinanzen auch; viele Arbeitsplätze könnten verloren gehen. Einfach wird 2021 sicher nicht. Doch um mit einer positiven Note zu enden: Eigentlich kann es nur besser werden.
Roger Pint
Gut gemacht, dieser Rückblick.
Die Coronakrise hat "denen da oben" gezeigt, dass es ohne "die da unten" nicht geht. Hat die Schattenseiten von Staat und Gesellschaft sichtbar gemacht. Es ist schlechthin DIE Bewährungsprobe für das politische System. Nun müssen die riesigen Schlussfolgerungen gezogen werden. Und das heißt auch mehr direkte Demokratie und nicht Scheindemokratie a la Bürgerdialog, mehr soziale Gerechtigkeit.