So viel vorweg: Die Schuld an dem Brüsseler Debakel ist kollektiv. Das ist es aber auch, was das Ganze so aussichtslos macht. Jeder hat - aus seiner jeweiligen Sicht betrachtet - irgendwo Recht, zugleich wird der Bogen aber auf beiden Seiten definitiv überspannt.
Für die Frankophonen ist Bart De Wever der Buhmann. Aus ihrem Blickwinkel heraus ist das auch nachvollziehbar, allerdings nur bis zu einem gewissen Maß. Kaum ein Zweifel: Bart De Wever hat die Frankophonen überfahren, überrumpelt.
Er hat sich ganz bewusst über Form und Gepflogenheiten hinweg gesetzt. Es war nicht seine Aufgabe, eine Blaupause für eine neue Staatsreform zu verfassen. Er hat es doch getan, gewürzt mit einer gehörigen Prise N-VA. Dann hat er seine Note der Presse zugespielt.
Gipfel aller Unverschämtheit: Der Text, den die Medien bekamen, trug die Anrede an den König. Denn, und auch das ist eigentlich ein Affront: Der Abschlussbericht gehört zu aller erst in die Hände des Auftraggebers, des Königs also, für den De Wever ja schließlich als "Aufklärer" unterwegs war. Kaum hatten die anderen Parteien die Note erhalten, da trommelte De Wever auch schon die Presse zusammen und machte in einer wohl inszenierten Show den Inhalt öffentlich.
Dieses ganze Theater hat die Frankophonen bis aufs Blut gereizt. Und dann hat wohl der Inhalt der Note allem noch die Krone aufgesetzt. Selbst flämische Kommentatoren müssen inzwischen einräumen, dass der angebliche Kompromissvorschlag für die Frankophonen starker Tobak ist. Nur ein Beispiel: Die Spaltung von BHV "à la De Wever" erfolgt quasi ohne Gegenleistung, die Konzessionen sind meilenweit entfernt von dem, was die Frankophonen immer gefordert haben.
Das mag ja alles stimmen. Doch war das immer noch kein Grund, die Note so schnell und so kompromisslos abzuschießen. Zwei mögliche Erklärungen. Erste Möglichkeit: Die Frankophonen sind De Wever auf den Leim gegangen, sind ihm in die wohl inszenierte Falle getappt. Er hat sie dazu gebracht, Nein! zu sagen, und damit nicht selbst als ewiger Verweigerer sondern gar als konstruktiv da zu stehen. Die pfeilschnelle Ablehnung aus dem Süden des Landes hat in Flandern jedenfalls einen desaströsen Eindruck hinterlassen.
Die Reaktionen waren genauso postwendend wie vorhersehbar: Die Frankophonen haben die Note gar nicht gelesen, hieß es da. Daraus folgend: "Na bitte! Das zeigt es doch: die Frankophonen sagen ohnehin immer Non!, egal was in einem flämischen Vorschlag steht." Und damit ging der Schuss auch gleich mit voller Wucht nach hinten los. Sofort war es mit der zwischenzeitlichen Isolation vorbei, scharte sich alles wieder um De Wever, der -kaum war er von seiner königlichen Aufgabe entbunden- gleich genüsslich den Märtyrer geben konnte.
Die Frankophonen haben hier einen monumentalen strategischen beziehungsweise psychologischen Fehler gemacht. Sie haben ihren - objektiv - ärgsten Gegner noch weiter aufgebaut. Und zugleich mögliche Verbündete geschwächt: Denn auch die flämischen Parteien, allen voran die SP.A, hatten arge Bedenken angesichts der De Wever-Note. Gehört hat das niemand, die Empörung über das glatte Non! der Frankophonen war einfach zu groß.
Es gibt noch eine zweite Möglichkeit. Die Frankophonen wollten es De Wever mit barer Münze heimzahlen. Erstens: De Wever durfte nicht auf dem Terrain erfolgreich sein, wo er seinerseits Di Rupo hatte scheitern lassen. Zweitens: Auf eine Provokation, die man tatsächlich als solche betrachten kann, antwortet man eben... mit einer Provokation.
Doch gleich, was die Frankophonen beseelt hat: das Resultat ist da. Die Fronten sind verhärtet, die Flamen werden unnachgiebiger denn je sein. Für die Frankophonen bedeutet das: Eine neue Stufe der Radikalisierung.
Was man vor drei Jahren in Flandern noch mit Kusshand unterschrieben hätte, wäre jetzt längst ein kleiner Fisch. Die Frankophonen sind selber schuld, wenn die Flamen immer und immer mehr zu fordern scheinen - die Frankophonen schüren diese Eskalation. Denn davon abgesehen: Man muss De Wever - bei allem Klärungsbedarf, den seine Note hinterlässt - auch nicht gleich die bitterbösesten Absichten unterstellen. War es eine Falle, oder war es vielleicht nur nachvollziehbarer Frust? Aus flämischer Sicht kann man durchaus den Eindruck haben, die Frankophonen verfolgten eine Hinhaltetaktik, das frankophone Bekenntnis zu einer Staatsreform sei nicht mehr als heiße Luft.
Die Frankophonen sagen Ja! zu mehr finanzieller Eigenverantwortung, also: mehr Steuerautonomie. Zugleich lässt man sich jedoch die Garantie geben, dass es keine innerbelgische fiskale Konkurrenz und auch keine Verarmung von Brüssel oder der Wallonie geben darf. Im Klartext: Hier will einer die Butter und das Geld für die Butter - das eine schließt das andere aus. Und das zudem in einem allgemeinen Sparkontext. Die Frage, die sich Wever stellt, nämlich: "Wer soll das bezahlen?" ist absolut legitim.
Zusammenfassen könnte man es wie folgt: De Wever hat - bewusst oder unbewusst - eine Dramatisierung heraufbeschworen. Und die Frankophonen haben -bewusst oder unbewusst - diese Einladung angenommen. Und so tanzt man sich gemeinsam in den Abgrund. Beide Seiten haben irgendwo Recht, beide Seiten sind irgendwo schuld. Doch noch etwas verbindet sie: Beide Seiten sind zu gleichen Teilen verantwortungslos!
Bild: belga