Beim Begriff "Polizeigewalt" haben die meisten, zumindest nicht selbst betroffenen Menschen wahrscheinlich Länder wie die Vereinigten Staaten vor Augen. Sehr regelmäßig schrecken von dort Geschichten über entsprechende, oft tödlich verlaufende Einsätze auf. Es handelt sich jedoch sicherlich nicht nur um ein "Problem anderer Leute".
Was zum Beispiel aus den französischen Banlieues bekannt ist, gibt es auch in Belgien: Menschen, die während Polizeieinsätzen durch Beamte verletzt werden oder sogar zu Tode kommen. Und nicht erst seitdem alles mit dem Handy gefilmt wird, kann es dann auch zu Ausschreitungen kommen. Und je nachdem wie explosiv die Lage schon vorher war, reicht manchmal eben schon ein kleiner Funke.
Mit ein Grund für solche Spannungen ist oft, dass sich Menschen mit Migrationshintergrund von der Polizei ungerecht behandelt fühlen aufgrund ihrer Hautfarbe oder Religionszugehörigkeit. Und wie sich das anfühlt beziehungsweise wie das aussehen kann, erzählte Ayoub Bouda, Bruder eines 2019 bei der Flucht von einem Polizeiauto getöteten Minderjährigen, in der RTBF. Er hat mit Unterstützung anderer Organisationen eine Kampagne gegen diese Art der Diskriminierung gestartet.
Das Wort "Polizist" assoziiere er mit Gefahr, mit Unsicherheit. Kontrollen durch die Polizei seien mit Erniedrigung verbunden, mit Beleidigungen. Und manchmal, wenn man es wage, zu widersprechen, sogar mit Schlägen. Er selbst sei während des Corona-Lockdowns vor der gesamten Nachbarschaft kontrolliert worden, weil er und seine Freunde einem bestimmten Typ entsprochen hätten. Das sei natürlich eine erniedrigende Erfahrung gewesen, seinen Mitbürgern sei ein schlechtes Bild von ihm vermittelt worden.
"Ethnic Profiling", oft auch "Racial Profiling" genannt, beginne da, wo die Polizei aufgrund des Aussehens handle, und nicht auf Basis dessen, was die Person getan habe, erklärte dazu Pierre-Arnaud Perrouty von der Menschenrechtsliga im gleichen RTBF-Interview. Die Polizei schätze die Gefährlichkeit einer Person aufgrund von Vorurteilen ein, mit dem Gedankengang, was jemand in der Zukunft tun könnte. Und das sei illegal. Und obendrauf auch noch ineffizient, wie verschiedene Studien belegten.
Genau die Existenz dieser Praxis hatte Vincent Gilles, Präsident der Polizeigewerkschaft SLFP, vor wenigen Tagen rundheraus als "Phantasien" und "Hirngespinste" abgestritten. Eine Aussage, die bei Ayoub Bouda für Entsetzen sorgte, sie entspreche weder der Realität noch seinen persönlichen Erfahrungen. Man müsse sich doch nur die Profile der Opfer von Polizeigewalt anschauen, so Pierre-Arnaud Perrouty, dann könne man doch gar nicht mehr abstreiten, dass es hier eine rassistische Dimension gebe.
Und diese Art von Kontrollen könne eben dazu führen, so Ayoub Bouda, dass Menschen einfach aus Angst und aus einem Gefühl der Unsicherheit heraus die Flucht vor der Polizei ergreifen. Und wenn es dann wie im Fall seines getöteten Bruders laufe und niemand es auch nur für nötig halte, Erklärungen oder Entschuldigungen anzubieten, führe das zu einem Gefühl der Ohnmacht und Ungerechtigkeit.
Man müsse den Eindruck haben, dass Polizisten ungestraft töten dürften, dass sie keine Rechenschaft ablegen müssten. Und bevor ein Dialog wiederhergestellt werden könne, müsse es zumindest eine gewisse Gerechtigkeit geben. Ohne die könne es kein Vertrauen geben. Es müsse einen Dialog zwischen den Opfern, deren Angehörigen und der Polizei geben. So lerne man, sich gegenseitig zuzuhören und wenn man die verschiedenen Standpunkte verstehe, könne das wiederum zu konkreten Lösungen führen.
Es gebe zwar das sogenannte Komitee P, das Aufsichtsgremium der Polizei, das Fällen von Polizeifehlverhalten nachgehe, so Perrouty, es sei aber nicht nur die Menschenrechtsliga, die dem Komitee mangelnde Unabhängigkeit vorwerfe. Ein weiteres Problem sei außerdem, dass viele Opfer von Polizeigewalt sich nicht trauen, Anzeige zu erstatten oder nicht wüssten, was sie unternehmen könnten. Eine Lücke, die die Liga mit einer eigenen Plattform für die Erfassung solcher Vorfälle, namens Police Watch, füllen wolle. Für die Polizei selbst ist die natürlich ein rotes Tuch, es handle sich hierbei schlicht um eine Denunziantenplattform, so der Vorwurf.
Boris Schmidt